Neurostimulation: „Für viele Betroffene ein Gamechanger“ Interview mit DGNM-Präsident PD Dr. Dirk Rasche
Verfahren der Neurostimulation können bei zahlreichen Beschwerden helfen – von chronischen Schmerzen über Epilepsie bis hin zu Depressionen. Im Interview erklärt PD Dr. Dirk Rasche, Oberarzt in der Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein am Campus Lübeck, wie die Therapien funktionieren, welche Fortschritte es gibt und was es braucht, damit noch mehr Patient:innen davon profitieren.
ArtikelBerlin/Lübeck, 03.09.2025
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PD Dr. Dirk Rasche, Oberarzt der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neuromodulation (DGNM
Herr Dr. Rasche, was versteht man unter Neurostimulation?
Bei der Neurostimulation beeinflussen wir mit elektrischen Impulsen das Nervensystem. Das kann man sich wie minimale, praktisch nicht spürbare Stromstöße vorstellen, die etwas an den Nervenbahnen verändern. So können wir beispielsweise chronische Schmerzen lindern, Symptome wie Zittern reduzieren oder auch Depressionen positiv beeinflussen. Neurostimulation zählt zu den Methoden der Neuromodulation, die noch weitere Verfahren zur Beeinflussung des Nervensystems umfasst, etwa Medikamente, Anwendung von Hitze oder Kälte oder auch Medikamentenpumpen.
Was genau passiert bei der Neurostimulation?
Es gibt derzeit mehr als ein Dutzend Verfahren, die an unterschiedlichen Stellen des Nervensystems ansetzen. Je nach Symptomen oder Erkrankungen wählen wir das passende Verfahren aus. Zwei Beispiele:
Bei der Rückenmarkstimulation implantieren wir – in der Regel dauerhaft – kleine Elektroden im Bereich der Wirbelsäule, um etwa chronische Schmerzen zu bessern. Die Elektroden senden Impulse in das Rückenmark, dadurch kommt es zu einer Beeinflussung der Schmerzweiterleitung und Schmerzempfindung.
Bei der Tiefen Hirnstimulation setzen wir die Elektroden in bestimmte Gehirnareale ein. So können Bewegungsstörungen etwa bei Parkinson behandelt werden, aber auch Depressionen und Zwangsstörungen.
Andere Verfahren sind weniger invasiv, die Elektroden werden zum Bespiel nur unter die Haut gesetzt. Die Betroffenen erhalten zudem einen Stimulator, über den sie die Impulse selbst steuern können.
Seit wann gibt es die Verfahren?
Tatsächlich schon sehr lange. Die erste Rückenmarkstimulation wurde in Deutschland bereits Anfang der 1970er Jahre durchgeführt. Wir haben also mittlerweile jahrzehntelang Erfahrung mit einigen der Therapien. Dass Strom bestimmte Beschwerden lindern kann, ist übrigens seit Jahrtausenden bekannt. Schon die alten Ägypter haben elektrisch geladene Fische genutzt, um Schmerzen zu beeinflussen. Ich muss dazu sagen: Bei manchen Verfahren wissen wir bis heute nicht, wodurch genau die positive Wirkung entsteht. Lange Zeit hatte die Forschung keinen Einblick in das menschliche Gehirn, das wurde erst durch die moderne Bildgebung wie die Kernspintomographie möglich. Außerdem ist unser Gehirn so komplex, dass wir es nach wie vor nicht komplett verstehen.
Von welchen Effekten berichten Ihre Patient:innen?
Für viele unserer Patient:innen sind die Verfahren ein echter „Gamechanger“. Sie erhalten dadurch eine völlig neue Lebensqualität. Man muss dazu auch wissen: Im Schnitt haben Betroffene, die an unser Institut kommen, eine Leidensgeschichte von gut sieben Jahren hinter sich. Sie quälen sich mit Schmerzen, leiden an epileptischen Anfällen oder Tic-Störungen, die ihnen ein normales Leben oder Arbeiten oft kaum mehr möglich machen. Es klingt pathetisch, aber viele sind uns ewig dankbar. Allerdings: Es gibt auch Betroffene, bei denen die Verfahren nicht helfen. Bei sorgfältiger Indikationsstellung und Patientenauswahl sind dies jedoch nur sehr wenige, unter zehn Prozent. Wir machen daher meistens zunächst eine Testphase von bis zu zehn Tagen. Auch um zu sehen, ob die Patient:innen mit der Steuerung über den Stimulator zurechtkommen.
Welche Risiken gibt es?
Wie bei jedem operativen Verfahren oder jeder Medikation gibt es natürlich auch Risiken. So können durch die Implantation der Elektroden Entzündungen entstehen. Das passiert aber vor allem bei Patient:innen mit entsprechenden Risikofaktoren, etwa Diabetes. Mitunter gibt es unerwünschte Nebenwirkungen. Beispielsweise kann sich bei Parkinson-Patient:innen das Sprechen verschlechtern. Da muss man dann gemeinsam mit dem Betroffenen abwägen, ob das in Kauf genommen wird, um andere Symptome wie Zittern zu reduzieren. Darüber hinaus können Elektroden verrutschen oder es kann technische Probleme geben. Das ist aber gerade auch durch den technischen Fortschritt sehr selten geworden. Insgesamt kann ich sagen, dass wir hier Patient:innen haben, die seit über 20 Jahren solche Implantate tragen und bis heute damit glücklich sind.
Welche technologischen Fortschritte gab es in den letzten Jahrzehnten?
Die MedTech-Branche ist hier sehr aktiv. Die Grundlagen der Verfahren sind fast alle älter, aber bei den Methoden sind wir inzwischen Generationen weiter. Sowohl die Elektroden als auch die Stimulatoren sind heute deutlich kleiner. Die kleinsten Geräte können durch die Haut hindurch aufgeladen werden und müssen nur noch alle 10 bis 15 Jahre ausgetauscht werden. Das klingt gut, heißt aber bei dem rasanten Fortschritt auch, dass die Patient:innen nach etwa fünf Jahren eigentlich ein veraltetes Gerät haben. Den Austausch nutzen wir dann immer, um auf die neueste Generation upzudaten. Auch die Handhabung ist einfacher geworden. Die Verbindung zwischen Elektroden und Stimulator funktioniert inzwischen per Bluetooth, früher brauchte man Kabel. Die neuesten Geräte sind zudem MRT-tauglich. Das war eine sehr wichtige Neuerung, denn die Kernspintomographie ist heute eine der wichtigsten Diagnostikverfahren für den gesamten Körper.
Ich freue mich, dass wir als Behandler in engem Kontakt mit den Herstellern stehen. Unsere Expertise aus der Praxis ist dort sehr gefragt und wir sitzen etwa mit in Beratungsgremien der Unternehmen. So gelangen klinische Erfahrungen rasch in die Entwicklung. Uns eint das Ziel, die besten Lösungen für die Patient:innen zu finden.
„Wir fordern schon seit langem, dass die Neurostimulation auch bei anderen Indikationen in die Therapie-Leitlinien aufgenommen wird. Wenn Patient:innen bestimmte Kriterien erfüllen, sollten sie viel früher mit den Verfahren behandelt werden.“PD Dr. Dirk RaschePräsident der DGNM, Oberarzt am UKSH

Stehen die Verfahren Betroffenen immer rechtzeitig zur Verfügung?
Die Neurostimulation steht leider aktuell noch recht weit hinten in der Behandlungskette. Die Hürden sind hoch. Die Krankenkassen fordern etwa, dass Betroffene zunächst eine multimodale Schmerztherapie oder eine psychologische Begleitbehandlung machen müssen. Das ist angesichts der extrem langen Wartezeiten aus meiner Sicht nicht haltbar. Bei vielen Betroffenen wäre es sinnvoll, ihnen viel früher eine Neurostimulation zu vermitteln. Dass das nicht passiert, liegt auch an fehlendem Wissen über die Therapien. Viele Ärz:tinnen aus anderen Fachrichtungen halten die Operationen für aufwändig oder kritisch, was nicht den Tatsachen entspricht. Gerade das Thema Schmerztherapie ist auch bis heute kein fester Bestandteil des Medizinstudiums. So kommt es dann, dass Patient:innen mit Rückenschmerzen teilweise mehrere Wirbelsäulen-OPs erhalten, bevor sie zu uns kommen. Wenn man bedenkt, dass in Deutschland pro Jahr etwa 300.000 Wirbelsäulen-Operationen durchgeführt werden und jeder fünfte bis zehnte Patient unter anhaltenden, behandlungsbedürftigen, chronischen Rücken- oder Beinschmerzen leidet, wird schnell klar dass wir über 30.000 bis 60.000 Betroffene pro Jahr sprechen. Übrigens finden uns viele Patient:innen über Selbsthilfegruppen oder über das Internet. Die Betroffenen fragen dann berechtigterweise: Warum hat mir das niemand früher gesagt? Auch bei Epilepsie und Depressionen sind die Verfahren leider längst noch kein Standard.
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Etwas leichter können wir Therapien bei Bewegungsstörungen wie Parkinson oder bei Tremor anbieten. Hier ist die Tiefe Hirnstimulation inzwischen Teil der neurologischen Behandlungsleitlinien. Das liegt vor allem daran, dass die Ergebnisse so überzeugend sind. Und halt auch greifbarer. Motorische Bewegungsstörungen sind sichtbar und dadurch leichter messbar, Schmerzen oder epileptische Anfälle sind das nicht.
Was müsste passieren, damit die Verfahren mehr Betroffenen zur Verfügung stehen?
Wir fordern schon seit langem, dass die Neurostimulation auch bei anderen Indikationen in die Therapie-Leitlinien aufgenommen wird. Wenn Patient:innen bestimmte Kriterien erfüllen, sollten sie viel früher mit den Verfahren behandelt werden. Dafür gehen wir auf Kongresse, sprechen mit den Fachgesellschaften, veröffentlichen Publikationen. Hier ist der Schulterschluss mit den beteiligten Firmen und Herstellern sinnvoll, da beispielsweise auf den Fachkongressen immer wieder die Neuigkeiten präsentiert und publik gemacht werden. Die Gründung des Netzwerkes Neuromodulation könnte hier ebenfalls unterstützen und eine Brückenfunktion erfüllen. Eine frühere Behandlung mit der Neurostimulation würde im Übrigen auch Kosten gegenüber medikamentösen Therapien sparen. Zwar sind Anfangsausgaben für die Implantate höher, aber schon nach zwei Jahren kehrt sich die Rechnung in der Regel um. Leider schauen wir im Gesundheitssystem nur auf die Anfangskosten, das setzt falsche Anreize.
Wie werden sich die Verfahren in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Die Industrie forscht auf jeden Fall weiter. Etwa an einer weiteren Miniaturisierung und der Einbindung von Nanotechnologie. Auch das Thema Digitalisierung wird eine zunehmende Rolle spielen. So wird bereits daran gearbeitet, die Stimulatoren künftig über eine App am Handy zu steuern. Technologisch ist das schon machbar, aber die bürokratischen Hürden sind noch hoch. Last but not least forschen wir natürlich auch daran, weitere Erkrankungen mit den Verfahren zu behandeln. Beispiele sind das Restless-Legs-Syndrom oder chronische Schmerzen wie z. B. brennende Füße bei Diabetes. Wir denken aber auch an seltene Erkrankungen, für die es bis dato gar keine Therapien gibt. Auf jeden Fall ist noch viel Luft nach oben. Letztlich wissen wie immer noch viel zu wenig über die Funktionen des Nervensystems und Gehirns. Ich bin daher zuversichtlich, dass wir noch viele Bereiche entdecken werden, in denen die Neuromodulation eingesetzt werden kann und für Besserung sorgen wird.