Krankheitsbedingte Mangelernährung: Problembeschreibung und Lösungsansätze Gastbeitrag von Prof. Dr. med. Matthias Pirlich für bvmed.de
In Deutschland sind etwa 20 bis 30 Prozent der Klinikpatientinnen und -patienten von krankheitsbedingter Mangelernährung betroffen. Das gilt vor allem für Menschen mit chronischen und schweren Erkrankungen. Das Problem nimmt aufgrund des demografischen Wandels weiter zu: medizinisch wie ökonomisch. Dennoch wird Mangelernährung häufig übersehen und nicht behandelt. Das liegt unter anderem an einer unzureichenden Vergütung von ernährungsmedizinischen Maßnahmen. Ein Bündnis von 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften fordert deshalb ein verpflichtendes systematisches Ernährungsmanagement mit einem routinemäßigen Screening auf Mangelernährung aller Patientinnen und Patienten bei der Aufnahme in die Klinik. Diese Forderung wurde in die im Januar 2024 veröffentlichte “Ernährungsstrategie der Bundesregierung” aufgenommen, ist aber bislang noch nicht Teil der Krankenhausreform. Wir benötigen jetzt verbindliche Regeln und Vergütungsanreize für eine leitliniengerechte Versorgung mangelernährter Menschen in deutschen Kliniken. Denn: Eine bessere Ernährungsfürsorge in Kliniken ist nicht nur medizinisch und ökonomisch sinnvoll, sie ist auch ethisch geboten.
ArtikelBerlin, 09.09.2025
Prof. Dr. Matthias Pirlich; Bild: Praxis Kaisereiche, Berlin
Ursachen und Folgen von Mangelernährung
Zu den häufigsten Ursachen einer Mangelernährung zählt der Abbau körpereigener Reserven infolge anhaltender Entzündung. Darüber hinaus werden bei bestimmte Erkrankungen Botenstoffe im Körper ausgeschüttet, die den Appetit vermindern und die Verwertung von Nährstoffen verschlechtern.
Weitere wichtige Gründe sind Kau- und Schluckstörungen, die das Essen und Trinken erschweren, sowie Funktionsstörungen von Magen und Darm. Dadurch kann die Nahrung nicht richtig weitertransportiert oder die Aufnahme von Nährstoffen beeinträchtigt werden.
Bei Krebserkrankungen spielen zudem Nebenwirkungen der Therapie eine Rolle, die zu Übelkeit und Appetitlosigkeit führen. Besonders ältere Menschen mit mehreren Erkrankungen sind gefährdet, da die Einnahme vieler verschiedener Medikamente den Appetit vermindern oder zu Mundtrockenheit führen kann. In manchen Situationen steigt der Nährstoffbedarf auch schlicht an – etwa bei schweren Entzündungen, nach Unfällen oder bei einer Schilddrüsenüberfunktion.
Häufig liegt der Mangelernährung nicht nur ein einzelner Auslöser zugrunde, sondern mehrere Faktoren wirken gleichzeitig zusammen. Hinzu kommen soziale und wirtschaftliche Belastungen: Sie betreffen nicht nur arme Länder, sondern auch wohlhabende Industrienationen. Dort können insbesondere Kinder unter Mangelernährung leiden, wenn das Geld für eine ausgewogene Ernährung fehlt.
„Im Krankenhaus haben Patientinnen und Patienten mit Mangelernährung ein deutlich höheres Risiko für Komplikationen – etwa dreieinhalb Mal so häufig wie gut ernährte Menschen.“
Wenn ein Mensch krankheitsbedingt zu wenig oder nicht die richtige Nahrung aufnimmt, baut der Körper Muskulatur ab und das Immunsystem wird geschwächt. Die Folge: Die Muskeln verlieren an Kraft, das Gehen wird unsicher und Wunden heilen langsamer. Betroffene erkranken leichter, können sich schlechter selbstständig bewegen, verlieren dadurch an Selbstständigkeit – und ihre Lebensqualität nimmt deutlich ab. Oft sind sie außerdem auf mehr Pflege angewiesen.
Im Krankenhaus haben Patientinnen und Patienten mit Mangelernährung ein deutlich höheres Risiko für Komplikationen – etwa dreieinhalb Mal so häufig wie gut ernährte Menschen. Dazu gehören zum Beispiel Infektionen nach Operationen, die Notwendigkeit einer künstlichen Beatmung oder auch ein plötzliches Versagen der Nieren. Bei Kindern kann ein Nährstoffmangel das Wachstum sowie die Entwicklung von Körper und Gehirn erheblich beeinträchtigen.
Auch die Corona-Pandemie hat das eindrücklich gezeigt: Menschen mit Mangelernährung hatten ein deutlich erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf und sogar für einen tödlichen Ausgang. Daten aus einer Untersuchung mit über 350.000 Patientinnen und Patienten belegen, dass mangelernährte Menschen mehr als dreimal so häufig starben wie jene in einem guten Ernährungszustand.
Ökonomische Bedeutung der Mangelernährung
Patientinnen und Patienten, die im Krankenhaus an. Mangelernährung leiden, bleiben häufig deutlich länger stationär und verursachen dadurch höhere Behandlungskosten. Untersuchungen aus verschiedenen Ländern und Gesundheitssystemen belegen diesen Zusammenhang immer wieder. Wie hoch die Belastung für das Gesundheitssystem insgesamt ausfällt, lässt sich jedoch nur grob abschätzen.
Eine kanadische Studie etwa hat berechnet, dass Mangelernährung pro Krankenhausaufenthalt zusätzliche Kosten von rund 1.500 bis 2.000 US-Dollar verursacht. Hochgerechnet ergibt sich für das kanadische Gesundheitssystem eine jährliche Mehrbelastung von 1,6 bis 2,1 Milliarden US-Dollar.
Auch für Deutschland gibt es entsprechende Schätzungen: Da etwa 20–25% der Krankenhauspatienten mangelernährt sind, entstehen durch längere Aufenthalte und intensivere Behandlungen jedes Jahr zusätzliche Kosten von rund 5 bis 8,6 Milliarden Euro. Das entspricht etwa 4–7% aller Ausgaben für stationäre Krankenhausbehandlungen.
Daten aus den USA zeigen ebenfalls die Dimension des Problems: Dort beläuft sich die jährliche Mehrbelastung durch Mangelernährung im Krankenhausbereich auf rund 15 Milliarden US-Dollar. Überträgt man diese Zahlen grob auf die deutsche Bevölkerungsgröße, entspräche das etwa 3,9 Milliarden US-Dollar.
Auch wenn die genauen Beträge variieren, bleibt die zentrale Erkenntnis: Mangelernährung ist nicht nur ein gravierendes gesundheitliches Risiko, sondern auch ein erheblicher Kostenfaktor für das Gesundheitssystem.
Diagnostik der Mangelernährung
Eine große internationale Expertengruppe, die Global Leadership Initiative on Malnutrition (GLIM), hat 2019 gemeinsame Regeln für die Diagnose von Mangelernährung festgelegt. Damit gibt es erstmals weltweit akzeptierte Kriterien. Für die Diagnose werden fünf Merkmale berücksichtigt: Drei davon betreffen messbare Veränderungen - Gewichtsverlust, niedriger Body Mass Index oder geringe Muskelmasse. Zwei andere betreffen die Ursachen - eine zu geringe Nahrungsaufnahme oder eine Entzündung bzw. Krankheitsbelastung. Bereits wenn jeweils ein Kriterium aus beiden Gruppen erfüllt ist, gilt eine Person als mangelernährt.
Ein Beispiel: Wer unbeabsichtigt länger als zwei Wochen deutlich weniger gegessen hat als üblich und in den letzten sechs Monaten mehr als fünf % seines Körpergewichts verloren hat, erfüllt nach den GLIM-Kriterien die Diagnose einer Mangelernährung.
Die neuen GLIM-Kriterien sind ein wichtiger Schritt für die Ernährungsmedizin und werden mittlerweile von den wichtigsten medizinischen Fachgesellschaften unterstützt. Zahlreiche Studien zeigen, dass sich die Kriterien in der Praxis gut bewähren.
Auch außerhalb der Fachwelt wächst die Anerkennung: Die WHO hat die modernen GLIM-Kriterien bereits in Veröffentlichungen berücksichtigt. Langfristig besteht die Hoffnung, dass sie auch in den internationalen Krankheitskatalog (ICD) aufgenommen werden. Einen entsprechenden Antrag haben medizinische Fachgesellschaften bereits bei der WHO gestellt.
Wirksamkeit eines systematischen Ernährungsmanagements
In den letzten 20 Jahren haben zahlreiche wissenschaftliche Studien gezeigt, dass ein gezieltes Ernährungsmanagement im Krankenhaus sehr wirksam ist.
Besonders zwei große Untersuchungen stechen hervor:
- In der nordamerikanischen NOURISH-Studie bekamen ältere, mangelernährte Menschen eine spezielle Trinknahrung, was die Sterblichkeit nach dem Krankenhausaufenthalt deutlich senkte.
- In der Schweizer EFFORT-Studie erhielten Krankenhauspatientinnen und -patienten mit Mangelernährung eine individuell angepasste Ernährungstherapie. Auch hier überlebten in der Ernährungsgruppe deutlich mehr Menschen als mit der üblichen Kost. Das Risiko zu sterben verringerte sich um rund ein Drittel.
In beiden Studien mussten nur relativ wenige Patientinnen und Patienten behandelt werden (20 bzw. 37), um einen Todesfall zu verhindern – ein sehr gutes Ergebnis für eine medizinische Maßnahme.
Eine große Übersichtsarbeit (Metaanalyse) mit 27 Studien bestätigte diese Ergebnisse: Sie zeigte, dass durch gezielte Ernährungsmaßnahmen
- die Sterblichkeit um 27% gesenkt werden konnte
- die Zahl der ungeplanten Wiederaufnahmen ins Krankenhaus in den 6 Monaten nach Entlassung um 24% zurückging.
Darüber hinaus zeigten die Studien, dass die Behandlungskosten pro Patient sinken. Hauptgründe sind weniger Infektionen und kürzere Krankenhausaufenthalte.
„Durch ein systematisches Ernährungsmanagement könnten jedes Jahr über 50.000 Todesfälle bei mangelernährten Klinikpatienten vermieden werden. Ernährungsmedizin im Krankenhaus rettet Leben - und spart gleichzeitig erhebliche Kosten.“Prof. Dr. Matthias PirlichNiedergelassener Ernährungsmediziner

Berechnungen für Deutschland verdeutlichen das enorme Potential:
- Durch ein systematisches Ernährungsmanagement könnten jedes Jahr über 50.000 Todesfälle bei mangelernährten Klinikpatientinnen und -patienten vermieden werden.
- Zudem könnten im ersten halben Jahr nach dem Krankenhausaufenthalt jährlich bis zu 9 Milliarden Euro eingespart werden.
Auch wenn es sich dabei um Schätzungen handelt, zeigen diese Zahlen eindeutig: Ernährungsmedizin im Krankenhaus rettet Leben - und spart gleichzeitig erhebliche Kosten.
Mangelernährung: Häufig übersehen und nicht behandelt
Dennoch wird Mangelernährung häufig übersehen und nicht behandelt. Gründe dafür sind unter anderem eine unzureichende Vergütung von ernährungsmedizinischen Maßnahmen in den pauschalisierenden Abrechnungssystemen, das fehlende Ernährungswissen in medizinischen Fachberufen und der immense Zeitdruck bei zunehmender Leistungsdichte und gleichzeitigem Mangel an Fachpersonal.
Ein weiteres Hindernis ist die Tatsache, dass der Nutzen einer in der Klinik begonnenen Ernährungstherapie dem jeweiligen Klinik-Management nicht sofort ersichtlich ist, weil sich einige positive Effekte erst im Zeitraum nach der Entlassung auswirken. Daher fehlt es derzeitig in den meisten Kliniken an strukturell verankerter Ernährungskompetenz.