Medizintechnik-Forschung

"Im Cluster liegt die Zukunft"

Artikel im Deutschen Ärzteblatt vom 13. März 2015

Clusterbildung zwischen Forschung und Industrie und die Campus-Idee können dazu beitragen, Innovationen stärker am klinischen Versorgungsbedarf auszurichten.

Die Medizintechnik in Deutschland genießt weltweit einen exzellenten Ruf und gilt als sehr innovativ. Trotzdem hat sich das Umsatzwachstum in den letzten Jahren abgeschwächt. „Ein gutes Drittel der Unternehmen werden im Jahr 2015 zurückgehende Gewinne haben“, erklärte Dr.-Ing. Hans-Otto Maier, B. Braun Melsungen AG, beim Forum Medizintechnik* im Clinical Research Center (CRC) Hannover. Gründe dafür sieht er vor allem in der global zunehmenden Regulierung für Medizinprodukte, einer weltweiten Marktkonsolidierung und im Mangel an disruptiven Innovationen, die dazu beitragen, die Versorgungsqualität bei gleichen oder sogar verringerten Kosten zu verbessern. „Eine Umkehr dieses Trends ist nur durch die Fokussierung auf revolutionäre Innovationen mit kürzeren Innovationszyklen zu erreichen“, betonte Maier.

Industrie kommt in die Klinik

Das Problem: Die Medizintechnik hierzulande wird vor allem von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) getragen, die auf dem Weg von einer innovativen Idee hin zu einem in der Versorgung zugelassenen Medizinprodukt zahlreiche Hürden fachlicher, finanzieller und bürokratischer Art überwinden müssen. Der Schlussbericht des nationalen Strategieprozesses „Innovationen in der Medizintechnik“ aus dem Jahr 2012 hatte im Hinblick darauf bereits einige Empfehlungen formuliert. Unter dem Aspekt einer bedarfsorientierten Entwicklung sollten etwa klinische Anwender frühzeitig in den Innovationsprozess einbezogen werden. Zudem sei ein Wandel von Produktinnovationen hin zu Prozess- und Systeminnovationen zu vollziehen. „Die Herausforderungen für die KMU steigen“, erläuterte Dr. Arne Hothan von der VDI Technologiezentrum GmbH, einem der Projektträger für das Referat Gesundheitswirtschaft im Bundesforschungsministerium. Die Entwicklungsprozesse werden immer komplexer, die Schnittstellen zu Informations- und Kommunikationstechnologien immer wichtiger, neue Branchen müssen in die Entwicklung einbezogen werden. „Da ist es sinnvoll, wenn sich KMU sowohl entlang der Wertschöpfungskette als auch entlang der klinischen Versorgungskette vernetzen“, so Hotham. Zu den aus den Handlungsempfehlungen abgeleiteten Förderprogrammen zählt unter anderem die Strukturmaßnahme „Industrie-in-Klinik-Plattformen“ (Kasten).

Ein Weg, um sich den neuen Herausforderungen zu stellen, ist die regionale interdisziplinäre Vernetzung und Cluster-Entwicklung. Beispiel Hannover: Dort ist im Umfeld der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) eine vielfältige Forschungs- und Entwicklungslandschaft für die Medizintechnik entstanden. Der bereits 2003 gestartete Sonderforschungsbereich „Zukunftsfähige bioresorbierbare und permanente Implantate aus metallischen und keramischen Werkstoffen“ etwa ist eine interdisziplinäre Gemeinschaftseinrichtung der MHH, der Universität Hannover und der Tierärztlichen Hochschule Hannover, die eng mit dem Laserzentrum Hannover, der Technischen Universität Braunschweig und dem Hemholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig kooperiert.

Zum Medizintechnikcluster gehört auch das Niedersächsische Zentrum für Biomedizintechnik, Implantatforschung und Entwicklung (NIFE) als erstes gemeinsames biomedizintechnisches Großprojekt der drei hannoverschen Hochschulen. Für 60 Millionen Euro entsteht derzeit ein neues Forschungsgebäude, um die bisher auf 18 Institute an acht Standorten verteilten Kompetenzen in der Biomedizintechnik- und Implantatforschung räumlich zu vereinen und Synergien zu gewinnen, berichtete Dr. med. Manfred W. Elff, Vorstandsvorsitzender des NIFE. Ab Oktober soll das Zentrum bezugsfertig sein. Das Forschungsprogramm umfasst die Entwicklung biologischer, biofunktionalisierter und infektionsresistenter Implantate zur Rekonstruktion und Funktionswiederherstellung ausgefallener Organfunktionen im kardiovaskulären, audioneurologischen, muskuloskelettalen und dentalen Bereich, erläuterte Elff.

Zu erwähnen ist auch das für 38 Millionen Euro errichtete Clinical Trial Center, das im Juli 2014 eröffnet wurde. Es bietet Platz für klinische und epidemiologische Studien sowie für patientenorientierte Forschung und beheimatet die zentrale Biobank der MHH. Gründungspartner sind das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin, die MHH und das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.

Campus-Konzept in Aachen

Beispiel Aachen: Rund um die Universitätsklinik im Westen der Stadt und auf einem ehemaligen Bahngelände entsteht derzeit ein Cluster Biomedizintechnik auf Basis eines Campus-Konzepts, berichtete Prof. Dr. med. Thomas Schmitz-Rode, Direktor des Instituts für Angewandte Medizintechnik an der RWTH Aachen. Ihm zufolge hat die RWTH eine gewisse Tradition in der Kooperation mit Industriepartnern, denn knapp 40 Prozent ihres Haushaltes werden als Drittmittel eingeworben (circa 400 Millionen Euro jährlich). „Dies soll jetzt im Rahmen des Campus-Konzepts systematischer angegangen werden“, erläuterte der Experte. Das Grundkonzept beruht darauf, dass private Investoren in die Weiterentwicklung der Universität mit einbezogen werden sollen. „Der Leitsatz ist hier: Forschung braucht Fläche“, meinte Schmitz-Rode. Entstehen soll auf rund 800 000 qm2 für zwei Milliarden Euro ein zusammenhängender Campus, der zudem etwa 10 000 neue Arbeitsplätze schaffen soll.

Von den 19 geplanten Clustern des Campus sind sechs bereits implementiert, darunter auch die Biomedizintechnik. Die Vorteile: Nicht nur innerhalb des Clusters kann die Forschung effizienter organisiert werden, sondern durch die Vernetzung können die Cluster wechselseitig an andere Cluster andocken. So sei es für die Biomedizintechnik von Nutzen, dass das Cluster Photonik an neuen 3-D-Druckverfahren von Zellen arbeite und im Cluster Produktionstechnik erprobt werde, wie man die Forschung in prototypische Produktionslinien bringe. Ziel sei es, auf diese Weise eine geschlossene Umsetzungskette zu bilden, erläuterte Schmitz-Rode. Durch Clusterbildung, so der Kerngedanke, „lassen sich Umsetzungszeiten verringern und der Lösungsraum vergrößern, indem jeder Teilnehmer des Clusters an der Entstehung von Wissen vor Ort partizipiert“.

In Aachen erstreckt sich die Kooperation nicht nur auf Forschung und Entwicklung, sondern auch auf die Aus- und Weiterbildung. „Das bedeutet einerseits, dass die Mitarbeiter der Industrieunternehmen an Vorlesungen, Seminaren und Workshops der RWTH teilnehmen können, andererseits aber auch aus den Unternehmen heraus Dozenturen und Gastprofessuren bestehen, in denen den Studierenden praxisrelevante Themen vermittelt werden“, so Schmitz-Rode. Die Unternehmen immatrikulieren sich in der Universität und haben teil an der gesamten universitären Infrastruktur. Angestrebt wird dabei die wettbewerbliche, aber auch die vorwettbewerbliche Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie. Das Konzept scheint aufzugehen: Das im Jahr 2011 eröffnete Zentrum für Biomedizintechnik auf dem Campus ist bereits komplett belegt: Von den 4 100 qm2 Grundfläche entfallen dabei 75 Prozent auf Campus-Unternehmen und 25 Prozent auf Start-ups aus der Hochschule.

Bis Februar 2017 wird zudem für 40 Millionen Euro das Zentrum für biohybride Medizinsysteme fertiggestellt, in dem unter anderem biohybride Implantate für Herz-Kreislauf und Lunge sowie Nanoträgermaterialien für Tumortherapien erforscht und entwickelt werden sollen. In sogenannten System-Labs werden Möglichkeiten für die interdisziplinäre Zusammenarbeit geschaffen, um etwa protoypische Produktionslinien und Komponenten dafür zusammenzustellen. Geplant ist darüber hinaus ein medizinisches Lehr- und Trainingszentrum, finanziert von der medizinischen Fakultät und der RWTH.

Neue Forschungskultur

Multidisziplinär ist auch die Zusammenarbeit von Ärzten, Informatikern, Physikern, Ingenieuren und weiteren Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen am Hightech-Forschungs-Zentrum in Basel, das der Mund-Kiefer-Gesichtschirurg Prof. Dr. med. Hans-Florian Zeilhofer am Universitätsspital Basel vor zehn Jahren gegründet hat und leitet. Dort arbeiten flexible Teams an der Lösung von Problemen, die aus dem Klinikalltag kommen. „Ziel ist es, zum Nutzen der Patienten neue Technologien und Arbeitsprozesse in Diagnostik und Therapie zu entwickeln und in Kooperation mit universitären Partnern im In- und Ausland, aber auch in enger Zusammenarbeit mit der Industrie bis zur Marktreife zu bringen“, erläuterte Zeilhofer. Diese neue Forschungskultur erfordere den Mut zum unternehmerischen Handeln und führe immer öfter zu Ausgründungen. „Das Besondere am Basler Modell: Hochschule, Fachhochschule, Universitätsklinikum und Industrie sind als Partner am Spin-off beteiligt“, berichtete Zeilhofer.

Beispiele für erfolgreiche Forschungsergebnisse sind ihm zufolge der 3-D-Druck im OP, neue Methoden der dreidimensionalen Planung und Rekonstruktion etwa nach Tumoroperationen und die Erfindung eines miniaturisierten 3-D-Echtzeit-Navigatonssystems für komplizierte Operationen.

INDUSTRIE-IN-KLINIK-PLATTFORMEN

Neues Kooperationsmodell: Die Förderinitiative zielt darauf ab, nicht wie bisher die Kliniker mit der Industrie lediglich zu vernetzen, sondern die Industrie direkt in die Kliniken zu bringen. Damit sollen neue Infrastrukturen (Logistik, Administration, Managment, Räume) im klinischen Umfeld aufgebaut werden, über die auch kleinere Medizintechnikunternehmen Zugang zu klinischen Ressourcen erhalten. Durch die enge Kooperation von Unternehmen und Kliniken sollen innovative Produkte näher am Versorgungsbedarf ausgerichtet und dabei auch Investoren integriert werden.

Eigenständige Betreibergesellschaften mit professionellem Mangement sollen die Plattformen führen und die Kooperation koordinieren.

30 Millionen Euro Fördermittel stellt das BMBF für das Programm bereit, das sich sowohl an Unternehmen als auch an Krankenhäuser richtet.

Quelle:
Dtsch Arztebl 2015; 112(11): A-458 / B-391 / C-383
Krüger-Brand, Heike E.
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