- Ärzte verurteilen Stigmatisierung Endokrinologen: Adipositas ist eine Krankheit und keine Charakterschwäche ÄrzteZeitung Online vom 15. September 2021
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Endokrinologen fordern, die Stigmatisierung adipöser Menschen zu beenden. Ihr Zustand sei nicht selbstverschuldet, betonen sie.
Die bisherigen Vorstellungen zur Entstehung der Adipositas und zu den Therapiemöglichkeiten für adipöse Menschen sind falsch. Das ist eine der Kernaussagen zum Start der 6. Deutschen Hormonwoche der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE).
Es gelte, die Stigmatisierung und Diskriminierung adipöser Menschen zu beenden, forderte unter anderem Professor Martin Wabitsch, Pädiater am Universitätsklinikum Ulm.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte hätten gezeigt, dass die extreme Adipositas, die im frühen Lebensalter auftritt, kein Verschulden der Eltern oder des Kindes oder gar ein selbstgewählter Zustand sei, sondern das Ergebnis einer Fehlregulation des Hungers, so Wabitsch bei einer Pressekonferenz der DGE.
Leptinresistenz im Hirn führt zu ständiger Suche nach Nahrung
Das zentral und unbewusst gesteuerte homöostatische System registriert den Ernährungszustand und reguliert die Nährstoffaufnahme. Fehler im Leptin-Stoffwechsel oder ein Mangel des „Hungerhormons“ Leptin können zu falschen Informationen des Gehirns über den tatsächlichen Ernährungszustand des Körpers führen. Dies ist allerdings eher selten.
Aus noch nicht vollständig verstandenen Gründen liegt bei adipösen Kindern oft eine Leptinresistenz im Gehirn vor. Es resultiert die ständige Suche nach Nahrung bei zugleich heruntergefahrenem Energieumsatz, verlangsamtem Höhenwachstum und spontaner Meidung körperlicher Bewegung.
Adipogenes Umfeld tut sein Übriges
Reize aus der Umgebung, in Deutschland gekennzeichnet durch ein Überangebot an Nahrungsmitteln, tun ein Übriges (hedonisches System). Weil das kognitiv-emotionale System dem starken Einfluss der homöostatischen Regelkreise unterliege, führe das dazu, erklärte Wabitsch, dass das Körpergewicht insgesamt sehr stabil gehalten wird und willentlich nur geringfügig verändert werden könne. Das erklärt die Misserfolge von Therapieversuchen, die allein auf Ernährungs- und Bewegungsprogrammen beruhen.
Adipositas wird heute als chronische Erkrankung aufgefasst, die einer lebenslangen Behandlung bedarf. Große Hoffnungen setzen Endokrinologen auf Inkretinmimetika wie die GLP-1-Rezeptoragonisten. Diese hätten sich in Studien als hoch effektiv erwiesen bei guter Langzeitverträglichkeit, sagte Professor Jochen Seufert vom Universitätsklinikum Freiburg.
Kassen verweigern oft Kostenübernahme von Antiadiposita
So ist Liraglutid ab einem Alter von 12 Jahren zur Gewichtsregulierung zugelassen. In naher Zukunft erwartet werden weitere Zulassungen, zum Beispiel von Semaglutid als einmal wöchentliche Spritze oder in oraler Formulierung sowie von Inkretin-Koagonisten, die mehrere Inkretinhormon-Rezeptoren ansprechen.
Bislang werde seitens der gesetzlichen Krankenkassen oft die Kostenübernahme der medikamentösen Therapie verweigert, kritisieren die Endokrinologen.
Die pharmakologische Therapie soll immer eingebettet werden in ein multimodales Behandlungsprogramm, wie es mit dem Disease Management Programm Adipositas implementiert werden soll.
Bei Erwachsenen wird Adipositas-Chirurgie befürwortet
Bei Erwachsenen befürworten die Endokrinologen den häufigeren Einsatz bariatrisch-chirurgischer Interventionen gemäß der S3-Leitlinie und nicht erst bei extremer Adipositas. Die Evidenz für die Langzeiteffekte sei für die bariatrische Chirurgie derzeit besser als für die pharmakologisch unterstützte Therapie, sagte Seufert. Er erwartet allerdings, dass die konservative Therapie in den Vordergrund rücken wird, sobald neue Wirkstoffe zur Verfügung stehen.