Pflege-Dialog

Pflege im Dialog | Digitalisierung und unterstützende Technologien für die Pflege

Welche Wege gibt es aus der Belastungsspirale der Pflege? Das WIRKSAM-Magazin hat Pflege-Expert:innen und den BVMed zu den Möglichkeiten der Digitalisierung und unterstützende Medizintechnologien in der Pflege befragt. Es wird deutlich: Es steckt viel Potenzial in technologiegestützten Maßnahmen zur Stärkung und Entlastung der Pflege. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass wir diese ausschöpfen können – für eine bessere Prozessgestaltung, mehr Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie die Weiterentwicklung des Berufsbildes Pflege. Die Fragen wurden von Holger Menk, Herausgeber des WIRKSAM-Magazins, gestellt und in der Rubrik Pflege-Dialog! veröffentlicht (Ausgabe 4 2022).

Wie beurteilen Sie die Effekte, die durch eine Modernisierung und digitale Ausstattung am Arbeitsplatz erzielt werden können, um bessere und kompetenzorientierte Bedingungen zu schaffen? (Stichwort: Pflegeunterstützende Technologien).

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski, Netzwerk Pflegewissenschaft im VPU: Die Informationsdichte in der klinischen Versorgung ist mittlerweile so hoch, dass die digitale Ausstattung unabdingbar ist. Die Digitalisierung im klinischen Alltag bietet die Möglichkeit zur Weiterentwicklung und Aufgabenverteilung (neue Angebotsentwicklungen). Durch digitale Anwendungen ist zudem die Patientenorientierung und -beteiligung besser umsetzbar. Jedoch sind die Prozesse hinter den digitalen Anwendungen kritisch zu reflektieren – digital bedeutet nicht gleich gut. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss pflegerisches Handeln unterstützen - nur dann ist es sinnvoll und moralisch vertretbar. Viele Technologien (bspw. Robotik, Apps) müssen sich im klinischen Alltag bewähren. Bereits bei der Entwicklung digitaler Anwendungen müssen Pflegefachpersonen aus der direkten klinischen Praxis und aus der Pflegewissenschaft beteiligt sein. Zudem muss die Digitalisierung in die Ausbildungsstrukturen integriert werden. Wichtig ist ebenso die Gewährleistung des Schutzes digitaler Infrastrukturen, aufgrund der zunehmenden Hacker-Angriffe auf Krankenhäuser und anderen Institutionen. Die Umsetzung verbindlicher Standards zur Integration digitaler Hilfsmittel sollte in bestehende IT-Systeme per Gesetz festgeschrieben sein (HL7 FHIR).

Dr. Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer BVMed: Moderne Medizintechnologien können Arbeitsprozesse verbessern, Pflegende entlasten und Arbeitsrisiken reduzieren. Ich denke dabei an smarte Krankenbetten, die körperlichen Einsatz verringern. Medizinprodukte, die Daten in die ePA einspielen. Oder digitale Hilfsmittel, die auf notwendige Versorgungswechsel hinweisen. So können sich Pflegende auf patient:innennahe Tätigkeiten fokussieren und ihr Tätigkeitsprofil weiterentwickeln.

Christine Vogler, Präsidentin Deutscher Pflegerat: Wir müssen nicht mehr darüber diskutieren, ob digitale Technologien sinnvoll sind. Sie sind es. Es geht nicht um das ob, sondern um das wie. Wir benötigen bundesweite Vorgaben und Absprachen, was genutzt werden kann, wie und wer es finanziert und zur Anwendung bringt und es muss sinnvoll in ein digital abgestimmtes Gesundheitssystem passen.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski Antwort auf Vogler: Frau Vogler ist in diesem Punkt zuzustimmen - Digitalisierung ist in allen Settings der Pflege heutzutage unumgänglich. Digitalisierung ist das Instrument des Informationsmanagements und damit die Basis der notwendigen Pflegequalität. Der Einsatz von pflegeunterstützenden und pflegeerweiterten Technologien kann neue innovative Versorgungsangebote der Pflege ermöglichen und sie dabei unterstützen. Für passgenaue Entwicklungen braucht es die Beteiligung von Pflegepraxis und Pflegeforschung.

Dr. Marc-Pierre Möll Antwort auf Vogler: Dem stimme ich zu und ergänze eine weitere zentrale Aufgabe: Der Aufbau digitaler Kompetenzen bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen. Ausbildungs-, Trainings- und Weiterbildungspläne müssen mit der Entwicklung Schritt halten. Auch die öffentlichen Informationssysteme und -portale. Nur so können Verständnis und Fähigkeiten für den sicheren und nutzenstiftenden Einsatz digitaler Gesundheitslösungen entwickelt werden.

Isabell Halletz, Geschäftsführerin Arbeitgeberverband Pflege: Gerade die Herausforderungen der Corona-Pandemie haben gezeigt, wie wichtig digitale Lösungen in der Gesundheitsversorgung sind. Vor allem Pflegekräfte berichten immer wieder davon, dass digitale Anwendungen ihnen Zeit sparen. Auf der anderen Seite können pflegeunterstützende Technologien dazu beitragen, die Pflegeberufe moderner zu gestalten, innovative Pflege ermöglichen und damit zur Attraktivität und Weiterentwicklung der Pflegeberufe beitragen.

Sabrina Rossius, Geschäftsführerin BV Pflegemanagement: Die Effekte, die durch diese Modernisierung und Digitalisierung entstehen können, hängen sehr stark von den Ressourcen vor Ort und dem Engagement der Führungskräfte ab.. Aktuell befinden sich sehr viele Pflegemanagende noch in einem Hamsterrad aus Personalausfällen und dem Versuch, Strukturen und Prozesse aufrecht zu halten, für die die Ressourcen aber nicht mehr vorhanden sind. Wenn sich aber für gute und sinnvolle Technologien entschieden wird, besteht die nächste Herausforderung in der Implementierung. Insgesamt ist es wichtig, sich diesen Möglichkeiten offen gegenüber zu stellen, um die Chancen einschätzen und umsetzen zu können.

Wie sinnvoll ist die Ausweitung des DiPA- Anwendungsbereichs auch auf den stationären Bereich?

Isabell Halletz: Es war schon mit der Gesetzgebung unverständlich, weshalb ein Pflegebereich von der Anwendung ausgeschlossen wurde. Wenn für die bedarfsgerechte Pflege der Einsatz von DiPA als sinnvoll erachtet wird, sollte die Anwendung unabhängig vom Ort der Pflege erfolgen dürfen.

Christine Vogler: Aus der Sicht der Pflegeprofession ist die Übertragung der DiPAs für alle Versorgungsbereiche für die Zukunft zwingend zu denken. Die künstliche Trennung zwischen SGB V und XI, also Kranken- und Pflegeversicherung, ist aus der Sicht der Pflegebedürftigen und Ihrer Angehörigen nicht sinnvoll. Wenn eine DiPa in Zukunft in der Häuslichkeit gut angewendet werden kann und der Pflegebedürftige dadurch eine gute Versorgung erfährt, sollte bei stationärer Versorgung diese Unterstützung nicht “abgestellt” werden. Wir müssen Gesundheitsversorgung immer mehr aus der Sicht der Pflegebedürftigen entwickeln. Das bedeutet, der Pflegebedürftige darf seine DiPA und DiGA mitnehmen!

Dr. Marc-Pierre Möll: DiPA sind aktuell nur für die ambulante Pflege vorgesehen. Das sollten wir ändern. Denn DiPA können auch den stationären Alltag erleichtern. Zum Beispiel durch Vernetzung der Pflegenden oder – bei Medizinprodukten mit Sensoren – durch Erhebung und Übermittlung versorgungsrelevanter Daten.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski: Durch die Ausweitung des DiPA-Anwendungsbereichs in der klinisch pflegerischen Versorgung besteht Potenzial zur Weiterentwicklung der Angebotsqualität und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegefachpersonen - bessere Ressourceneinteilung. Breite Anwendung, jedoch viel Forschungsbedarf. Voraussetzung für die Anwendung sind fachkompetente Pflegefachpersonen.

Isabell Halletz auf die Antwort Kocks/Luboeinski: Vor allem für akademisierte Pflegefachpersonen wäre dieser Einsatzbereich sinnvoll, um die DiPA in den stationären Bereich einzuführen und die Weiterentwicklung der Anwendung voranzubringen.

Sabrina Rossius: Insgesamt ist die Anwendung von DiPA Möglichkeiten als sehr wichtig einzuschätzen. Die Ausweitung muss unbedingt erfolgen, um die Ressourcen zu schonen, Transparenz und Qualitätssicherung zu erhalten / schaffen.

Kann man durch die Schaffung besonders hoher Qualitätsstandards bei der Weiterbildung, der Gesundheitsförderung und beim Arbeitsschutz die Attraktivität der Pflegeberufe steigern?

Sabrina Rossius: In jedem Fall kann durch Steigerungen von Qualitätsstandards in o. g. Bereichen die Attraktivität in Pflegeberufen verbessert werden. Ganz aktuell zum Beispiel das Thema Hitzeschutz. Bei zum Beispiel 46‘ Raumtemperatur zu dokumentieren ist weit entfernt von Arbeitsschutz. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Planung und Umsetzung solcher Strategien. Das Phänomen “Tropfen auf dem heißen Stein” gilt es zu verhindern, da sonst zu viel Raum für Ablehnung bzw. Nicht-Spürbarkeit entsteht.

Christine Vogler: Das sind aus meiner Sicht unterschiedliche Aspekte. Natürlich steigern wir im Grundsatz durch die oben erwähnten Punkte die Attraktivität. Bei konsequenten, bundesweit geltenden Bildungsstrukturen für die Pflege, die von der staatlichen Pflegeassistenzausbildung bis zur Hochschulprofessur reicht und Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Studienwege ermöglicht, schaffen wir ein transparentes Karrieresystem mit Durchlässigkeiten, die den Absolventen hilft, im Pflege- und Gesundheitssystem zu bleiben und sich zu entwickeln. Arbeitsschutzsteigerung beziehe ich jetzt mal allgemein auf Arbeitsbedingungen. Und die einschneidendste ist hier vor allem der Personalschlüssel. Wenn wir es in der Zukunft zunächst mal schaffen, Pflegebedarfe zu erheben und dann Konsequenzen in der Pflegebesetzung abzuleiten und auch umzusetzen, ist das eines der Schlüsselstellen. Das gilt für alle pflegerischen Versorgungssettings.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski Antwort auf Vogler: Wir stimmen zu, dass Pflegequalität und Arbeitsbedingungen eng mit dem Personalschlüssel zusammenhängen. Hierzu gilt es auch den Qualifikationsschlüssel aktiv zu gestalten. International ist der Pflegebachelor die Standard-Qualifikation. Hier muss Deutschland dringend aufholen, als Orientierung kann hier der Hebammenberuf dienen.

Dr. Marc-Pierre Möll: Hohe Standards eröffnen Pflegenden Perspektiven mit neuen Verantwortlichkeiten, daher sehe ich das als Teil der Lösung. Für mehr Transparenz im Arbeitsmarkt könnten moderne Einrichtungen öffentlich ausgewiesen werden.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski: Grundsätzlich ist der Gestaltung von positiven Arbeitsbedingungen im Pflegefachberuf einer hohen Bedeutung beizumessen. Beispiele: Ausreichende Qualifikation von Pflegefachpersonen, entsprechend der an sie gestellten hohen pflegefachlichen Anforderungen – dies umfasst sowohl die Aus- und Weiterbildung sowie das Pflegestudium (international ist das Pflegestudium Standard). Gesundheitsförderliche Angebote, die die Pflegefachpersonen erreichen und woran sie Freude haben. Dazu gehört auch die Beteiligung der Pflegefachpersonen bei der Angebotsentwicklung. Letztendlich wird die Frage nach der Attraktivität des Pflegefachberufes auch von der Personalausstattung bzw. der individuell zu leistenden Arbeitsintensität abhängen – auch hierzu geben andere Länder eine gute Orientierung.

Christine Vogler Antwort zu Kocks/Luboeinski: Die Gestaltung von positiven Arbeitsbedingungen ist einer der wesentlichsten Schlüssel für mehr Pflegepersonal und für besser qualifiziertes Pflegepersonal. Alle Beteiligten sind gefordert, alles dafür zu tun, um “gesunde” Arbeitsbedingungen zu schaffen. Ein erster Schritt dazu ist “mehr Personal”. Das muss jedoch auch politisch gewollt sein und darf nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen.

Isabell Halletz: Die Attraktivität kann in erster Linie durch verlässliche Arbeitszeiten und verbesserte Arbeitsbedingungen erreicht werden. Das nennen auch immer wieder die Beschäftigten in entsprechenden Befragungen. Sie brauchen Entlastung durch mehr Kolleg*innen, verlässliche Arbeitszeiten und die Möglichkeit einer flexibleren Arbeitsorganisation. Wenn die Anforderungen und Aufgaben für die Pflegeberufe weiter wachsen, bleibt auch keine Zeit für Weiterbildung und gesundheitsfördernde Maßnahmen werden nicht genutzt.

Sabrina Rossius auf die Antwort von Halletz: Verlässliche Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten können dann erreicht werden, wenn besonders hohe Qualitätsstandards eingehalten werden müssen. In der Pflege ist es noch immer üblich, dass bei Personalmangel vor allem an Fortbildungstagen, Weiterbildungsmaßnahmen, Entwicklung innovativer Prozesse und Strukturen gespart wird. In diesem Fall sinkt die Attraktivität sowohl durch die Absage für den oder die einzelne Person, aber auch die Attraktivität im Team. Denn neben flexiblen und individuellen Arbeitszeiten- und Bedingungen ist ein weiterer Erfolgsfaktor die Professionalität des Teams. Im Endeffekt ein Teufelskreis. Der nach Ansicht des Pflegemanagements unterbrochen werden muss. Und dies kann durch ein Hochsetzen der Messlatte für Qualitätsstandards erreicht werden.

Inwieweit sollten durch einheitliche Fachweiterbildungsmöglichkeiten sowie eine entsprechende Ergänzung des Rahmenausbildungsplans beruflich Pflegende systematisch technologie- und digitalisierungsbezogene Kompetenzen erwerben können?

Dr. Marc-Pierre Möll: Digitale Medizinprodukte entfalten bei konsequentem Einsatz ihren Mehrwert für Pflegende. Um gemeinsam die digitale Transformation voranzubringen, haben viele Unternehmen Schulungsprogramme für ihre Angebote, die bei einer Aus- und Weiterbildungsoffensive integriert werden könnten.

Isabell Halletz: In der Pflegeausbildung lernen die Auszubildenden bereits Pflegeprozesse und Pflegediagnostik bei Menschen aller Altersstufen mit gesundheitlichen Problemlagen zu planen, zu gestalten, durchzuführen und zu evaluieren und dafür Gesundheits-Apps bzw. andere digitale Begleiter mit einzubeziehen. In der Pflegepraxis müssen noch mehr Einsatzmöglichkeiten geschaffen werden.

Christine Vogler: In Fachweiterbildungen und Studiengängen müssen konsequent die Fortschritte und Erkenntnisse der Forschung und der Gesellschaft einwandern. Das war schon immer so und muss natürlich auch in Zukunft die digitalen Kompetenzen im Berufsfeld miteinschließen. Die Entwicklung ist in einem unglaublichen Tempo unterwegs – von daher ist es momentan für die Bildungsinstitutionen eine echte Herausforderung, hier Schritt zu halten. Was es nicht unbedingt erleichtert, ist das unglaubliche Angebot an digitaler Technologie, gepaart mit einer schier nicht zu überblickenden Anwendungsvielfalt.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski: Zukünftig benötigen Pflegefachpersonen weitreichende Informations- und Kommunikationstechnologiekompetenzen, denn sie müssen nicht nur Anwender:innen, sondern auch Ansprechpartner:in für die Herstellenden sein. Wie in Frage 1 erwähnt, sollten diese Kompetenzen in allen Qualifizierungsmöglichkeiten erworben werden. Fachweiterbildungsmöglichkeiten könnten z.B. beim Thema Robotik auch einzeln und bei Bedarf angeboten werden. Qualifizierungsmöglichkeiten müssen auch für Pflegefachpersonen, die bereits seit Langem den Beruf ausüben, angeboten werden.

Sabrina Rossius: Die Herausforderung besteht weniger in der Kompetenzvermittlung während der Rahmenausbildung. Dort sind die Pflegenden bereits auf dem Weg, Neues zu erlernen und umzusetzen. Die Schwierigkeit besteht darin, Erlerntes in der Praxis anzuwenden, wenn die Herausforderungen vor Ort nicht gegeben sind. Somit sollte der Fokus auf flächendeckende Kompetenzsteigerung gelegt werden.

Isabell Halletz Antwort auf Rossius: Diese Erkenntnis können wir aus der Altenpflegepraxis unterstützen. Es gibt bereits Modellprojekte und auch sehr innovative Pflegeanbieter, aber noch immer stellen die Umsetzung des Erlernten die Azubis und auch Studenten vor Herausforderungen und führt teilweise zu Demotivation, weil das Gelernte nicht mit moderner Technologie oder mit digitalen Tools umgesetzt werden kann.

Sollten Versorgungskonzepte, die die nicht-ärztlichen Leistungsbringer stärken und die Kompetenzprofile qualifizierter Gesundheitsberufe effektiv einzusetzen wissen, im SGB V verankert werden?

Isabell Halletz: Generell sollte die Vernetzung und Verzahnung verschiedener, für die Pflege relevanten Berufsgruppen, besser genutzt werden. Mit dem § 140a gibt es im SGB V bereits die Möglichkeit, integrierte Versorgungsverträge zu schließen und ärztliche sowie nicht-ärztliche Leistungserbringer miteinander zu verzahnen. Oft ist es jedoch ein langwieriger Prozess, bis solche Verträge geschlossen wurden.

Dr. Marc-Pierre Möll: Auf jeden Fall. Denn: Die Einbindung qualifizierter Gesundheitsberufe, etwa in der ambulanten Versorgung, ermöglicht es insbesondere bei komplexen Krankheitsbildern, Versorgungsengpässe zu überwinden und neue Berufswege für beruflich Pflegende zu ebnen.

Christine Vogler: Ja.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski: Es werden mehr neue innovative Rollen für spezialisierte Pflegefachpersonen wie z.B. Advanced Practice Nurse (APN), Community Health Nurse, School Nurse, Digital Health Nurse benötigt. Diese erweiterten Tätigkeiten sollten gesetzlich verankert werden und von den entsprechenden Berufsverbänden entwickelt werden.

Dr. Marc-Pierre Möll Antwort auf Kocks/Luboeinski: Wir beobachten, dass der Diskurs um innovative, interdisziplinäre Versorgungskonzepte an Fahrt aufnimmt. Erste Ideen schlagen sich bereits in gesetzlichen, untergesetzlichen Regelungen nieder – ich denke dabei an die Anpassungen der HKP-Richtlinie oder die Modellvorhaben nach § 64d SGB V. Hier benötigen wir allerdings weitere Konkretisierungen und eine Verknüpfung der Ansätze. Und wir brauchen mehr Mut und Vertrauen, um die Versorgungskonzepte gemeinsam zu realisieren.

Sabrina Rossius: Definitiv.

Welchen Stellenwert messen Sie einem Dialogforum bei, das vom Bundesministerium für Gesundheit ins Leben gerufen und von einer unabhängigen Institution moderiert werden würde?

Sabrina Rossius: Das kommt auf das Format eines solchen Dialogforums an. Der Aspekt einer externen Moderation klingt vielversprechend. Bedeutend sind aber die Faktoren Transparenz, Frequenz, Nachhaltigkeit, Praxisbezug und Teilnahme. Wer zum Beispiel würde die Pflegenden bzw. deren Interessen vertreten. Hierzu ist die Position des Pflegemanagements notwendig. Grundsätzlich eine gute Idee, um die Prozesse strukturiert zu lenken.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski: Grundsätzlich ist ein Diskurs in Form eines Dialogforums sinnvoll, jedoch braucht es feste Strukturen, wie z.B. durch ein Referat mit einem Chief Nursing Officer im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) - siehe England. Zudem braucht es flächendeckende Pflegekammern, die ein Mandat für solche Diskussionen im BMG besitzen und die Themen setzen. Auch ein breites politisches Engagement von Pflegefachpersonen ist dafür notwendig.

Dr. Marc-Pierre Möll: Ich halte ein berufspolitisches Forum für sinnvoll und wichtig, um gemeinsam die Zukunft der Pflege zu gestalten. So können Antworten zur möglichen Neujustierung der Aufgaben im Gesundheitswesen gefunden werden. Gleichzeitig möchten wir mit der Pflege direkt in den Dialog treten, damit die MedTech-Branche sie noch besser unterstützen kann.

Isabell Halletz: Es kommt auf das Thema und die damit verbundene Zielsetzung an. Dialogforen gibt es bereits viele. Am sinnvollsten wäre ein Forum, welches nicht nur Ergebnisse oder Positionen sammelt, sondern mit konkreten Zielen verknüpft, die die jeweiligen Akteure zur Umsetzung verpflichten.

Christine Vogler: Miteinander Kompetenzen austauschen und Perspektiven zusammenbringen war schon immer ein richtiger Weg. Was es aber auch braucht, ist der Wille, die Erkenntnisse aus diesen Runden auch in die Umsetzung zu bringen. Und zwar aller Perspektiven aus dem Gesundheitsbereich.

Was sind Ihre Basis-Wünsche für eine Reform der Pflege?

Christine Vogler: Zusammenführung der Sozialgesetzbücher SGB XI und V, steuerfinanziertes System ohne Pauschalentgelte, Selbstverwaltungssystem, in dem die Profession Pflege ein Teil ist, bundesweite Bildungsarchitektur in der Pflege von der Assistenz bis zur Professur.

Andreas Kocks und Jennifer Luboeinski: Analog zum Hebammenwesen eine Umstellung der Pflegeausbildung auf Pflegestudiengänge mit Vergütung der Praxiseinsätze und -anleitung - evidenzbasiertes, praxisnahes Instrument zur Pflegepersonalbedarfsbemessung - neben der Instrumentenentwicklung braucht es auch eine Pflegepersonalausstattung in der klinischen Versorgung, die sich an internationale Standards orientiert - gesetzliche Regelungen für Tätigkeiten von Pflegeexpert:innen.

Dr. Marc-Pierre Möll: Der Pflegenotstand spitzt sich zu. Und es gibt viele Stellschrauben, an denen wir drehen können, um dem entgegenzuwirken. Mein Appell lautet: Denken Sie MedTech mit! Meine Wünsche: 1. Ein Sofortprogramm “Technologiegestützte Entlastung der Pflege” in die Krankenhausreform integrieren, 2. neue Berufsprofile und digitale bzw. Technologiebezogene Kompetenz in der Pflege fördern und 3. eine Initiative “Attraktiver Arbeitsplatz Pflege” starten.

Sabrina Rossius auf die Antwort Möll: Das ist ein sehr attraktiver Ansatz für eine Reform. Wichtig ist hierbei, ein flächendeckendes Programm zu planen. Denn Leuchttürme gibt es mittlerweile ausreichend. Und verpflichtend. So unangenehm das klingen mag, von alleine ist es oft schwer, die Initiative zu ergreifen und den Prozess durchzuhalten. Manchmal schadet etwas Verpflichtung nicht.

Isabell Halletz: Zukunftsfähige Finanzierung der Pflege, Stärkung privater Träger, Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit und die Erleichterung der Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland.

Christine Vogler Antwort auf Halletz: Die Finanzierung der Pflege ist nicht mehr gesichert. Die Grenzen des Bezahlbaren für die Pflegebedürftigen sind überschritten. Aktuell kommen mit zu recht steigenden Löhnen wie aber auch stark steigenden Energiekosten und einer hohen Inflation weitere Kosten auf die Einrichtungen der Gesundheits- und Pflegebranche und damit auf die Pflegebedürftigen zu. Die Politik muss für alle Betroffenen schnell Lösungen finden. Die Gesundheits- und Daseinsfürsorge steht auf der Kippe.

Sabrina Rossius: Die Basis Wünsche aus der Perspektive des Pflegemanagements sind eine Reaktivierung der aktiven und konstruktiven Grundhaltung aller professionell Pflegenden. Es ist Zeit, sich nicht mehr daran aufzuhalten, die Herausforderungen von heute mit den Werkzeugen von gestern zu bearbeiten, sondern die Zukunft mit all ihren Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten in die Hand zu nehmen und endlich wieder zu gestalten. Auch die Politik muss eingreifen und zum Beispiel die Verkammerung der Profession Pflege festlegen, statt sich mit fragwürdigen Äußerungen zu bedenklichen Befragungen aus der Verantwortung zu ziehen.

Zum WIRKSAM-Magazin: www.wirksam.online

Vielen Dank für den spannenden Austausch!

Wir sind der Überzeugung: Pflegende können durch Digitalisierung und unterstützende Technologien entlastet und gestärkt werden. Dazu haben wir 7 Vorschläge erarbeitet – für eine bessere Prozessgestaltung, mehr Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie die Weiterentwicklung des Berufsbildes Pflege. Mehr unter bvmed.de/MedTech4Pflege
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