Experteninterview

"Metabolisch gesunde Dicke sind meist junge Frauen oder operierte Adipositas-Patienten"

Seit ungefähr fünf Jahren sorgt die bariatrisch-metabolische Chirurgie für Furore: In einer Reihe hochrangig publizierter Studien ist mittlerweile nachgewiesen, dass sich mit einer Operation zur Behandlung der krankhaften Fettsucht (morbide Adipositas) nicht nur das Körpergewicht der Patienten radi-kal reduzieren lässt, auch Folgekrankheiten der Adipositas wie der Typ-2-Diabetes lassen sich erfolgreich behandeln. Unmittelbar nach der Operation brauchen viele der zuvor zuckerkranken Patienten kaum noch Medikamente. Wie kann eine Operation den Stoffwechsel derart positiv beeinflussen? Und was muss man als Patient tun, um operiert zu werden? Aktion Meditech sprach dazu mit den Experten Matthias Blüher aus Leipzig, Professor für molekulare Endokrinologie und Vizepräsident der Deutschen Adipositasgesellschaft, und Jürgen Orde-mann, Professor für Adipositaschirurgie und metabolische Chirurgie an der Berliner Charité, der auch Sprecher der Interdisziplinären Expertengruppe ist.

Herr Professor Blüher, das statistische Bundesamt hat die Auswertun-gen des Mikrozensus 2013 veröffentlicht. Wie entwickelt sich das Kör-pergewicht der Deutschen?

Blüher: Zumindest im Erwachsenenalter werden die Menschen in Deutschland immer dicker. Die größten Zuwachsraten sind bei den sehr fettleibigen Menschen zu verzeichnen: Der Anteil der Patienten mit einem Body-Mass-Index oder kurz BMI von 40 Kilogramm pro Quadratmeter Körpergewicht hat sich beispielsweise zwischen 1999 und 2013 mehr als verdoppelt.

Heißt das, unsere Gesellschaft wird auch immer kranker oder bedeutet Fettleibigkeit nicht zwangsläufig Krankheit?

Blüher: Mit dem Übergewicht steigt auch das Risiko, an typischen metaboli-schen Leiden wie Typ-2-Diabetes oder Bluthochdruck zu erkranken.

Ordemann: Aber es gibt auch gesunde Dicke. Häufig hört man von Schätzungen, dass jeder fünfte fettleibige Patient metabolisch gesund ist oder besser: noch gesund ist.

Blüher: Die Betonung liegt tatsächlich auf „noch“. Das Phänomen ist alters- und geschlechtsabhängig: Metabolisch gesunde Menschen mit Adipositas sind meist Frauen zwischen 35 und 40 Jahren. Mit zunehmendem Alter wird diese Gruppe aber immer kleiner. 60-jährige weibliche Adipositas-Patienten sind nur noch zu etwa 10 Prozent, 60-jährige männliche Adipositas-Patienten nur noch zu etwa 5 Prozent metabolisch gesund.

Und was bedeutet das praktisch?

Grundsätzlich ist es natürlich für jeden Adipositas-Patienten erstrebenswert, metabolisch gesund zu sein. Ein solches Erscheinungsbild – medizinisch spre-chen wir von Phänotyp – existiert wie gesagt, aber nur in einem relativ kleinen Zeitfenster. Der metabolisch gesunde Adipositas-Phänotyp ist also ein Übergangsphänotyp. Es lohnt sich aber, daran zu forschen, wie man diesen Übergangsphänotyp mit möglichst großer Wahrscheinlichkeit erreichen kann. Die etwas flapsige Antwort lautet: Entweder indem man jünger und eine Frau ist oder indem man sich einer bariatrisch-metabolischen Operation unterzieht. Me-tabolisch gesunde Dicke sind also eher junge Frauen oder operierte Adipositas-Patienten. Denn mit solchen Eingriffen können wir metabolisch kranke Adipositas-Patienten metabolisch gesund machen.

Herr Professor Ordemann, hätten Sie jemals gedacht, dass ein Inter-nist die Chirurgie in derart hohen Tönen lobt?

Ordemann: Ich freue mich natürlich darüber und weiß gleichzeitig, dass die metabolisch-chirurgische Intervention nur eines von mehreren Instrumenten in der Therapie ist. Was wir zum Wohle der Patienten brauchen ist ein therapeutisches Gesamtkonzept, an dem Internisten unterschiedlicher Fachrichtungen, Ernährungs- und Bewegungsspezialisten sowie Chirurgen gleichermaßen beteiligt sind.

Lassen Sie uns zunächst über Operationsmethoden reden. Warum wirkt die Anlage eines Schlauchmagens oder eines Magenbypasses so radikal, dass ein zuvor diabeteskranker Patient nach der OP keine Me-dikamente mehr braucht?

Ordemann: Das kann man bislang nicht im Detail erläutern. Landläufig wird immer darauf verwiesen, dass sich durch die Magenverkleinerung – wie sie beim Schlauchmagen und beim Magenbypass stattfindet – das aufnehmbare Nahrungsvolumen verringert. Es kommt also zu einer Restriktion der Nah-rungsaufnahme. Beim Magenbypass wird gleichzeitig der obere Dünndarm stillgelegt, das heißt genau der Bereich, in dem normalerweise viele Nährstoffe resorbiert werden. Die Aufnahme der Nährstoffe wird also empfindlich vermindert; Experten nennen das Malabsorption. Heute wissen wir aber, dass das Konzept Restriktion/Malabsorption altes Denken repräsentiert. Eine viel wichtigere Rolle spielen bei Gewichtsabnahme und metabolischen Effekten endokrine Mechanismen, die derzeit Gegenstand der Forschung sind.

Blüher: Tatsächlich sind die Wirkungen der bariatrisch-metabolischen Chirurgie noch nicht bis ins letzte Detail verstanden. Es geht, wie Herr Ordemann schon sagte, um endokrine Effekte, also Einflüsse auf Darmhormone, möglicherweise auch auf die Gallensäurezusammensetzung. Weltweit befassen sich viele Forschergruppen mit der Frage, welche Botenstoffe genau dafür sorgen, dass die metabolische Chirurgie so unerwartet gut wirkt. Der Traum vieler Forscher ist, eines Tages eine Pharmakotherapie entwickeln zu können, mit der sich die Wirkungen der metabolischen Chirurgie erreichen lassen.

Können Sie kurz zusammenfassen, was die unerwartet guten Wirkungen der metabolischen Chirurgie sind?

Blüher: Unerwartet ist vor allem, um wie viel besser der chirurgische Eingriff im Vergleich zu konservativen Maßnahmen wirkt. Die letzten Auswertungen zur Prävention des Typ-2-Diabetes in der SOS-Studie zeigen, dass 87 Prozent der Diabetesfälle durch die chirurgischen Eingriffe verhindert werden konnten – das ist gigantisch. Das Krebsrisiko nimmt dramatisch ab, die Lebensqualität steigt derart, dass viele Betroffene wieder ins Berufsleben eintreten können. Die kürzlich aktualisierte STAMPEDE-Studie schließlich zeigt eindrucksvoll, dass auch über einen mittelfristigen Zeitraum von drei Jahren die operierten Patienten sehr viel weniger Diabetes-Medikamente brauchten oder sogar in Remission gelangten. Uns fehlen zu den modernen Operationsmethoden na-turgemäß noch 20- und 30-Jahre-Daten. Aber schon heute sind die Erfolge konservativer Maßnahmen Lichtjahre entfernt von den Erfolgen der metaboli-schen Chirurgie.

Herr Professor Ordemann, wie entscheiden Sie, ob ein Patient eher ei-nen Schlauchmagen oder einen Magenbypass erhalten sollte?

Ordemann: Das ist von einer Reihe von patientenbezogenen Variablen abhän-gig. Ganz vereinfacht gesagt kommt ein Schlauchmagen vor allem für Patien-ten in Betracht, die so genannte Volumenesser sind, also gerne herzhaft und in großen Portionen, aber nicht ständig essen. Sweet Eater dagegen, also Be-troffene, die gerne und sehr häufig Süßes essen oder große Mengen Soft-drinks konsumieren, profitieren meist mehr vom Magenbypass. Allerdings ist die Situation im Einzelfall genau zu beleuchten. Ein Schlauchmagen kann bei-spielsweise auch bei Volumenessern kontraindiziert sein, wenn das Risiko einer Refluxösophagitis besteht. Entschieden wird deshalb immer im Einzelfall und gemeinsam mit dem Patienten.

Blüher: Eine manifeste Diabeteserkrankung wäre für mich ein Argument für den Bypass, weil nicht nur mit der Verkleinerung des Magens, sondern auch mit der Umgehung des oberen Dünndarmabschnitts endokrine Verbesserungen erreicht werden – unter anderem wird die Insulinsensitivität verbessert. Die letzte Entscheidung aber liegt immer beim Chirurgen, der schließlich weitere patientenbezogene Variablen ins Kalkül ziehen muss: Ist die Leber vielleicht sehr groß? Verträgt der Patient unter Umständen keine lange Narkose? Selbst intraoperativ kann es geschehen, dass die ursprüngliche Entscheidung für ein bestimmtes Verfahren noch einmal revidiert werden muss.

Kommen wir am Ende zu den Zugangsmöglichkeiten zur Operation. Welcher Patient kommt für eine Operation in Frage und welcher nicht?

Ordemann: Zunächst einmal muss die Indikation korrekt gestellt werden. Auch die neuen S3-Leitlinien beurteilen einen bariatrisch-metabolischen Eingriff als sinnvoll, wenn ein Patient einen BMI größer 40 Kilogramm pro Quadratmeter mitbringt. Auch bei einem BMI von 35 plus metabolische Begleiterkrankungen würden wir die Indikation stellen. Zusätzlich muss die Bereitschaft des Patien-ten zur Kooperation überprüft werden, denn die Operation ist keine isolierte Maßnahme, sondern muss eingebettet sein in eine Vor- und Nachsorge. Der Patient muss verstehen, welche Operation er vor sich hat, muss begreifen, wie er sich auf die OP vorbereitet, wie er seinen Lebensstil nach der OP – mit der entsprechenden Unterstützung – zu verändern hat. Tut er das alles nicht, wird er sicher nicht operiert.

Blüher: Entscheidend ist, potenzielle Versager einer chirurgischen Therapie frühzeitig herauszufiltern. Harte Kriterien sind dafür beispielsweise eine Binge-eating-Störung oder eine nicht behandelte psychologisch-psychiatrisch be-dingte Essstörung. Wenn Patienten substanzabhängig sind, also unkontrolliert Drogen einnehmen, werden sie ebenfalls nicht operiert. Wir versuchen schließ-lich auch, Patienten davon zu überzeugen, möglichst auf das Rauchen zu ver-zichten, um den Heilungsprozess zu verbessern.
Nun müssen Patienten vor der Kostenübernahme durch die Krankenversiche-rung in Deutschland ja ein mindestens sechsmonatiges multimodales – aus Ernährungsberatung und Bewegungstraining bestehendes – konservatives Therapieprogramm absolvieren. Gibt es Patienten, bei denen ein solches Programm von vornherein nicht sinnvoll ist?
Blüher: Ja, die gibt es. Es gibt Patienten, die aufgrund ihres sehr hohen BMIs zunächst nicht in der Lage sind, ein Bewegungsprogramm zu absolvieren. Je nach Einzelfall stellen wir dann ab einem BMI von etwa 50 eine sogenannte Primärindikation für die Operation. Wir befürworten auch dann eine Operation ohne vorheriges multimodales Programm, wenn der Patient seine vielen Versu-che, erfolgreich an einem solchen Programm teilzunehmen, belegen kann.

Also ist die Teilnahme an einem solchen Programm nicht unabdingbare Voraussetzung für eine Kostenübernahme?

Blüher: Doch das ist sie. Das Stellen der Primärindikation dürfen Sie nicht ver-wechseln mit der Kostenübernahme durch die Krankenversicherungen. Bei Ihnen in Berlin ist das wahrscheinlich ähnlich, Herr Ordemann?

Ordemann: Ja, wir bekommen grundsätzlich für keinen Patienten eine Kostenzusage, der das Programm nicht absolviert hat. Ausnahmen, wie die von Ihnen skizzierten durchzusetzen, erfordert eine ungeheure Energie. Und das, obwohl für bestimmte Patienten – vorzugsweise solche mit einem BMI über 45 oder 50 – das konservative multimodale Therapieprogramm nur eine zusätzliche Warteschleife bedeutet, die Lebenszeit kostet, dem Patienten aber nichts bringt.
Blüher: Dem kann ich nur beipflichten. Von unseren Primärindikationen setzen wir bei den Kostenträgern nur etwa die Hälfte im Sinne einer Kostenübernahme durch.

Und dabei geht es lediglich um die Operationskosten. Wer finanziert eigentlich das notwendige lebenslange Betreuungsprogramm?

Blüher: Lassen Sie mich dazu ganz klar sagen, dass eine adäquate prä- und postoperative Betreuung unerlässlich ist, die dazu notwendige Infrastruktur in Deutschland aber überhaupt nicht existiert und von Kostenträgern offensichtlich nicht einmal gewünscht ist. Wir brauchen eine Art Disease-management-Programm für diese Patienten. Wir haben die Konzepte dazu in der Schublade, aber sie interessieren niemanden.

Ordemann: Morbide Adipositas und ihre metabolischen Folgeerkrankungen sind genauso bedeutsam und bedrohlich wie Tumorerkrankungen. Wir benötigen eine hochprofessionelle Vor- und Nachsorge, und zwar für das gesamte Bundesgebiet. Die Zustände hierzulande sind leider – auch im Vergleich mit vielen unserer europäischen Nachbarländer – desolat.

Dr. med. Matthias Blüher ist Professor für Molekulare Endokrinologie an der Universität Leipzig und Mitglied im Vorstand des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums (IFB) Adipositas-Erkrankungen in Leipzig. Matthias Blüher ist Vizepräsident und President Elect der Deut-schen Adipositasgesellschaft (DAG).

Dr. med. Jürgen Ordemann ist Professor für Adipositaschirurgie an der Charité Berlin und Leiter des Zentrums für Adipositaschirurgie und Metabolische Chirurgie der Charité. Jürgen Ordemann ist seit Februar 2014 Sprecher der Interdisziplinären Expertengruppe Metabolische Chirurgie.


Quelle: Aktion Meditech

Hier gibt es einen Informationsfilm des BVMed zur Adipositas-Chirurgie:
Sie benötigen den Flash Player.
  • Weitere Artikel zum Thema
  • Lancet-Studie: Zahl der Adipositas-Betroffenen stark gestiegen

    Die Zahl der Menschen mit Adipositas ist rasant gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt eine im The Lancet publizierte Studie (2024; DOI: 10.1016/S0140-6736(23)02750-2), über die das Deutsche Ärzteblatt Online berichtet. Weltweit waren der Studie zufolge 2022 mehr als eine Milliarde Menschen betroffen. Der Anteil der stark Übergewichtigen an der Bevölkerung habe sich seit 1990 mehr als verdoppelt, unter Heranwachsenden zwischen 5 und 19 Jahren sogar vervierfacht, berichten die Autorinnen und Autoren von NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC), einem Netzwerk von Gesundheitswissenschaftlern. Mehr

  • VDBD: Adipositas endlich als Erkrankung anerkennen, behandeln und vorbeugen!

    Jeder fünfte Mensch in Deutschland gilt als adipös.1 Im Vergleich zu Normalgewichtigen haben stark übergewichtige Menschen ein erhöhtes Risiko, Herzkreislauf-Beschwerden zu entwickeln oder an Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken. Anlässlich des Welt-Adipositas-Tages fordert der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD), Adipositas endlich zu entstigmatisieren, als Volkskrankheit medizinisch und gesellschaftlich anzuerkennen und entsprechend zu versorgen. In Anbetracht stetig steigender Fallzahlen sei das Disease Management Programm (DMP) Adipositas, das voraussichtlich im April 2024 in Kraft treten wird, ein erster wichtiger Schritt. Mehr

  • Studie: Bariatrische OP konventioneller Therapie bei Diabetes überlegen

    Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 2 profitieren von einer bariatrischen Operation mehr als von einer reinen medikamentösen Therapie. Forscher aus Pittsburgh haben dafür mehrere Einzelstudien gepoolt, berichtet ÄrzteZeitung Online. Mehr


©1999 - 2024 BVMed e.V., Berlin – Portal für Medizintechnik