Schlaganfall-Therapie

Studien bestätigen Nutzen der endovaskulären Thrombektomie bei großen Schlaganfällen

Deutsches Ärzteblatt Online vom 13. Februar 2023

Die endovaskuläre Schlaganfalltherapie (Thrombektomie), die bisher auf Patienten mit leichten bis mittelschweren ischämischen Schlaganfällen beschränkt wird, hat in zwei großen randomisierten Studien auch bei ausgedehnten Läsionen die Chancen der Patienten auf eine Erholung erhöht. Darüber berichtet das Deutsche Ärzteblatt Online.

Die Ergebnisse der beiden Studien wurden auf der International Stroke Conference vorgestellt und im New England Journal of Medicine (2023; DOI: 10.1056/NEJMoa2214403 und 10.1056/NEJMoa2213379) publiziert.

Die Ursache des ischämischen Schlaganfalls ist meistens ein Thrombus, der die Carotis interna oder einen ihrer Äste verlegt. Er lässt sich dort in der Regel mit einem Katheter entfernen, der von der Leiste aus bis in die Hirnarterie vorgeschoben wird. In Studien wurden Rekanalisationsraten von 70 % bis 80 % erzielt.

Die damit verbundene frühzeitige Reperfusion des Hirngewebes kann das Ausmaß der Behinderungen nach einem Schlaganfall begrenzen. Mit einer „Number needed to treat“ von 2,3 ist die endovaskuläre Thrombekto­mie eine äußerst effektive Therapie, die deshalb international von den Leitlinien empfohlen und in der Praxis auch umgesetzt wird. In Deutschland gehört die endovaskuläre Schlaganfalltherapie nach Angaben der Fachgesellschaften zum Standard jeder überregionalen „Stroke Unit“.

Bisher wurde die Thrombektomie auf kleinere bis mittelgroße Schlaganfälle begrenzt. Maßstab ist der „Alber­ta Stroke Program Early Computed Tomography Score“ (ASPECTS). Er wird auf der Grundlage der Anzahl der Hirnregionen berechnet, die frühe ischämische Veränderungen in der Computertomographie (CT) zeigen.

Die Werte reichen von 0 bis 10, wobei niedrigere Werte auf einen größeren Infarkt hinweisen. Ein ASPECTS von 5 oder weniger zeigt einen großen Schlaganfall an, bei dem bisher auf eine endovaskuläre Thrombekto­mie verzichtet wurde.

Im vergangenen Jahr konnte in der „RESCUE-JAPAN“-Studie gezeigt werden, dass die Thrombektomie auch bei einem ASPECTS von 3 bis 5 zu besseren Ergebnissen führt. Der befürchtete Anstieg von schweren intrakranie­l­len Blutungen war ausgeblieben.

Dies hat die Studienleitungen in zwei weiteren Studien zu einer Zwischenauswertung bewogen. Beide Studien wurden daraufhin vorzeitig abgebrochen. Die Ergebnisse wurden jetzt auf der International Stroke Conference (ISC) 2023 in Dallas/Texas vorgestellt. Sie bestätigen die Ergebnisse der „RESCUE-JAPAN“-Studie.

In der Studie SELECT2 sollten an 31 Zentren in Nordamerika, Europa (ohne deutsche Beteiligung) und Austra­lien/Neuseeland ursprünglich 560 Patienten mit einem großen ischämischen Schlaganfall (ASPECTS von 3 bis 5) nach Verschluss von Art. Carotis interna oder dem M1-Segment der Art. cerebri media teilneh­men. Bei dem Abbruch der Studie waren 178 Patienten der Thrombektomie-Gruppe und 174 Patienten der Gruppe mit medizinischer Versorgung zugewiesen worden.

Primärer Endpunkt waren die Veränderungen in der modifizierten Rankin-Skala (mRS), die die Behinderun­gen mit 0 Punkten (keine Behinderung) bis 6 Punkten (Tod des Patienten) bewertet. Wie Amrou Sarraj von der Case Western Reserve University in Cleveland berichtet, war die Reperfusion bei 79,8 % der Patienten erfolg­reich.

Der mRS-Wert lag nach 90 Tagen bei 4 gegenüber 5 in der Vergleichsgruppe mit alleiniger medizinischer Versorgung. Die Odds Ratio für einen Vorteil der Thrombektomie betrug 1,51 und war mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,20 bis 1,89 signifikant.

Anschaulicher sind die Ergebnisse in den sekundären Endpunkten. Einen mRS von 0 bis 2, der eine funktio­nelle Unabhängigkeit anzeigt, erreichten in der Thrombektomie-Gruppe 20,3 % der Patienten gegenüber 7,0 % in der Vergleichsgruppe (relatives Risiko 2,97; 1,60-5,51). Einen mRS von 0 bis 3 und damit eine Unabhängig­keit beim Gehen erreichten 37,9 % versus 18,7 % (relatives Risiko 2,05; 1,43-2,96).

Die Thrombektomie ist eine technisch anspruchsvolle Behandlung, bei der es zu prozeduralen Komplika­tionen kommen kann. Diese traten in der Studie SELECT2 bei 33 Patienten (18,5 %)auf. An der arteriellen Zugangsstelle kam es zu Gefäßverschlüssen (bei 3 Patienten oder 1,7 %), Hämatomen (bei 1 Patient oder 0,6 %) und Infektionen (bei 1 Patient, 0,6 %). Im operativen Gebiet im Gehirn kam es bei 10 Patienten (5,6 %) zur Dissektion eines Gefäßes, bei 7 Patienten (3,9 %) zu einer Perforation, bei 11 Patienten (6,2 %) zu einem Vasospasmus und bei 2 Patienten (1,1 %) zu anderen Gefäßverletzungen.

Die Komplikationen haben den Vorteil der endovaskulären Therapie nicht gefährdet. Zu einer symptoma­tischen intrakraniellen Blutung kam es bei 1 Patient (0,6 %) gegenüber 2 Patienten (1,1 %) in der Vergleichs­­gruppe. Bei 5 Patienten (2,8 %) versus 3 Patienten (1,7 %) kam es zu parenchymalen Hämatomen.

Nach 90 Tagen waren in der Thrombektomie-Gruppe 68 Patienten (38,2 %) gestorben gegenüber 71 Patien­ten (40,8 %) in der Gruppe mit medizinischer Versorgung (relatives Risiko 0,91; 0,71 bis 1,18). Zu einer frühen neurologischen Verschlechterung, definiert als ein Anstieg um 4 oder mehr Punkte auf der „National Institutes of Health Stroke Scale“ (NIHSS), kam es in der Thrombektomie-Gruppe bei 44 Patienten (24,7 %) gegenüber 27 Patienten (15,5 %) in der Gruppe mit medizinischer Versorgung (relatives Risiko 1,59; 1,03-2,45).

Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Studie ANGEL-ASPECT, an der sich 46 Kliniken in China beteiligt hatten. Von den 456 Patienten mit einem ASPECTS von 3 bis 5 waren 231 Patienten auf eine endovaskuläre Therapie und 225 auf eine alleinige medizinische Behandlung randomisiert worden. In beiden Gruppen hatten unge­fähr 28 % der Patienten zuvor eine intravenöse Thrombolyse erhalten.

Der primäre Endpunkt der Studie war auch hier eine Verbesserung in der mRS, die nach Angaben des Teams um Yongjun Wang von der Tiantan-Klinik der Universität Peking nach einer endovaskulären Thrombektomie häufiger erreicht wurde (generalisierte Odds Ratio 1,37; 1,11-1,69). Nach 90 Tagen erreichten nach der Thrombektomie 47,0 % der Patienten einen mRS von 0 bis 3 gegenüber 33,3 % in der Vergleichsgruppe (Odds Ratio 2,62; 1,69-4,06). Einen mRS von 0 bis 2 erreichten 30,0 % versus 11,6 % (Odds Ratio 1,50; 1,17-1,91).

Auch in China ist die Thrombektomie nicht ohne Risiken: Bei 113 Patienten (49,1 %) kam es zu intrakraniellen Blutungen gegenüber 39 Patienten (17,3 %) in der Vergleichsgruppe (Odds Ratio 2,71; 1,91-3,84).

Zusammen mit der japanischen Studie gibt es nach Ansicht von Pierre Fayad vom University of Nebraska Medical Center in Omaha gute Gründe, die Thrombolyse in Zukunft auch jenen etwa 20 % der Schlaganfall-Patienten mit einer ausgedehnten Ischämie anzubieten, wenn sie rechtzeitig in der Klinik eintreffen.

Rechtzeitig bedeutete in den drei Studien innerhalb von 24 Stunden nach dem Beginn der Symptome. Der Editorialist rät allerdings dringend, die Patienten und deren Familien darauf aufmerksam zu machen, dass die Behandlung nicht immer ohne Komplikationen verläuft, zu denen symptomatische Blutungen, Ödeme und eine neurologische Verschlechterung gehören. In Einzelfällen könnte nach der Behandlung auch eine Hemikraniektomie, also eine vorübergehende Schädelöffnung erforderlich werden.

Quelle: Deutsches Ärzteblatt Online vom 13. Februar 2023

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