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Hirnstimulation eröffnet Therapieoptionen bei Schlaganfall, Parkinson oder Depressionen
Wiesbaden, 10.11.2020|

© Medtronic
Ein wichtiges Ziel der aktuellen Forschung zur Gehirnstimulation ist, künftig den Aktivitätszustand des Gehirns bei der Stimulation berücksichtigen zu können. Kongresspräsident Ulf Ziemann erklärte hierzu: „Bei der herkömmlichen transkraniellen Magnetstimulation (TMS) wird das Gehirn nach einem festen Protokoll gereizt, völlig unabhängig von dem, was innerhalb des Gehirns gerade vor sich geht.“
Doch die gehirneigene Aktivität sei kontinuierlich raschen Schwankungen unterworfen und ändere sich in Bruchteilen von Sekunden, so der ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen an der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Tübingen. Studien hätten mittlerweile gezeigt, dass TMS besonders wirksam sei, wenn die Stimulation synchronisiert zur Gehirnaktivität erfolge.
Um dies zu ermöglichen, wird der Aktivitätszustand des Gehirns mittels Echtzeitanalyse aus elektroenzephalografischen Daten (EEG) beurteilt. Daran angeschlossen ist eine TMS-Spule, die mithilfe eines Algorithmus die Impulse auf die Millisekunde genau zum Gehirnzustand synchronisiert aussendet.
EEG und TMS ermöglichen präzise Stimulation
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich durch diese Kopplung Verbindungen zwischen Hirnbereichen besonders effektiv verändern lassen. Mögliche Anwendungsgebiete sind Ziemann zufolge Hirnnetzwerkerkrankungen wie Schlaganfälle, Depressionen oder Alzheimer.
Weiterentwickelt werden soll die Technologie in dem vom Europäischen Forschungsrat mit zehn Millionen Euro geförderten Projekt ConnectToBrain. Über sechs Jahre wollen die Tübinger Forscher darin zusammen mit Kollegen aus Finnland und Italien einen „Helm“ entwickeln, der mittels TMS gezielt jeden Ort der Großhirnrinde des Menschen schmerzfrei und nicht-invasiv stimulieren kann.
In dem Helm sollen neben den EEG-Elektroden bis zu 50 Magnetspulen integriert sind. Die ersten Tests im ConnectToBrain-Projekt werden mit gesunden Versuchspersonen durchgeführt. In drei Jahren sollen dann Studien mit Schlaganfall- und später auch mit Alzheimer-Patienten folgen. Mit Abschluss des Projektes in sechs Jahren soll das EEG-TMS-Gerät so weit ausgereift sein, dass mit der kommerziellen Herstellung begonnen werden kann.
„Wir gehen davon aus, dass die Closed-Loop-Stimulation einen Paradigmenwechsel in der therapeutischen Hirnstimulation einläuten und eine breite therapeutische Anwendung in Kliniken und Praxen finden wird“, sagte Ziemann.
Bedarfsgerecht stimuliert, statt dauernd gereizt
Auch bei Bewegungsstörungen, dem klassischen Einsatzgebiet der Tiefen Hirnstimulation (THS), entwickelt sich die Stimulationstechnik weiter: Das Ziel sei, von einer chronischen Dauerstimulation hin zu einer adaptiven, bedarfsgerechten THS zu kommen, erklärte Andrea Kühn, Leiterin der Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation der Berliner Charité.
Bewegungsstörungen treten nicht als kontinuierliches motorisches Defizit auf, sondern haben vor allem Schwankungen im Tagesverlauf. Bei Parkinsonpatienten äußert sich das durch motorische Fluktuation zum Beispiel nach Medikamenteneinnahme.
„Eine bedarfsgerechte Stimulation würde nur in Phasen schlechter Beweglichkeit einsetzen“, so Kühn. Auch Nebenwirkungen ließen sich dadurch potenziell lindern. Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass sich durch eine adaptive Stimulation zum Beispiel verwaschene Sprache und Überbewegungen reduzieren lassen.
Damit die Stimulation zum Beispiel nur in Situationen schlechter Beweglichkeit aktiviert wird, ist es erforderlich, das neuronale Signal auszulesen – in diesem Fall eine synchrone, oszillatorische Aktivität im Beta-Frequenzbereich um 20 Hertz. Dies sei bisher nur im Labor möglich gewesen.
Im nächsten Jahr wollen die Forscher mit einer klinischen Studie starten, in deren Rahmen erstmals im häuslichen Alltag der Patienten eine adaptive Stimulation erprobt werden soll. Möglich macht dies eine technische Innovation: Der Stimulator, der in der Studie zum Einsatz kommen soll, kann langfristig neuronale Signale über die in den Basalganglien platzierten THS-Elektroden auslesen.
Antidepressiver Stimulator für den Heimgebrauch?
Den Weg in die häusliche Umgebung des Patienten nimmt die Hirnstimulation aber auch bei der Behandlung von Depressionen.
„Eine bei Depressionen beteiligte Region des Gehirns ist der dorsolaterale präfrontale Kortex, der vor allem mittels transkranieller Stimulationsverfahren wie der TMS oder Gleichstromstimulation (englisch: transcranial Direct Current Stimulation – tDCS) direkt erreicht werden kann“, berichtete Frank Padberg, Leiter der Sektion für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Rund ein Drittel der Depressionspatienten spreche nicht auf die traditionelle Therapie mit Antidepressiva und Psychotherapie an, so Padberg. Bei der TMS und und der tDCS handele es sich um nebenwirkungsarme Behandlungsverfahren, die einfach in der Behandlungspraxis – im Fall der tDCS sogar zu Hause – eingesetzt werden könnten.
Die rTMS ist mittlerweile in vielen Ländern zur Behandlung von Depressionen zugelassen und auch in Deutschland eine Therapieoption. Die tDCS wird gerade noch intensiv bezüglich ihrer Wirksamkeit untersucht, unter anderem im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes.
In der bislang größten Studie zur tDCS, die 2017 im New England Journal of Medicine publiziert wurde, konnten Andre Brunoni und Mitarbeiter zeigen, dass eine tDCS über zehn Wochen zwar nicht ganz so wirksam wie eine Behandlung mit einem antidepressiven Medikament war, aber eine deutlich höhere Wirksamkeit als eine Placebobehandlung zeigte.
„Die einfache Anwendung im klinischen Alltag ermöglicht die Entwicklung der Stimulationsverfahren zu einer neben Medikamenten und Psychotherapie stehenden „dritten Säule“ in der Depressionstherapie“, so Padbergs Fazit.
Quelle: Deutsches Ärzteblatt Online vom 9. November 2020