Klinische Studien
MedInform-Konferenz zu den Auswirkungen der Gesundheitsreform 2010: "GKV-Finanzen stabilisiert, Gestaltungsspielräume nutzen"
02.12.2010|94/10|Berlin|
GKV-Finanzen stabilisiert, mehr Krankenkassenwettbewerb, neue Gestaltungsspielräume, aber auch höhere Belastungen beispielsweise für die Krankenhäuser: Die Bewertung der aktuellen Gesundheitsreform fiel auf der MedInform-Konferenz „Gesundheitsreform 2010 – Was kommt 2011?“ am 1. Dezember 2010 in Berlin sehr unterschiedlich aus. Nach Ansicht von BVMed-Geschäftsführer Joachim M. Schmitt habe sich das Gesundheitsministerium zunächst der nachhaltigen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gewidmet, um 2011 verstärkt strukturelle Reformen anzugehen. Dabei würde sich für die MedTech-Unternehmen die Frage der sinnvollen Systempartnerschaften mit Krankenkassen und Krankenhäusern stellen. Christian Weber vom Bundesgesundheitsministerium betonte, dass die aktuellen Gesetze auch bereits strukturelle Verbesserungen enthalte.Claus Hommer von Johnson & Johnson sieht bei der Nutzenbewertung die MedTech-Branche auf einem guten Weg, gemeinsam mit dem IQWiG Parameter für Studien und das Verfahren gemeinsam und verlässlich festschreiben. Dabei müsse neben dem Patientennutzen auch der Anwendernutzen beachtet werden. Die Nutzenbewertung dürfe die Einführung von Innovationen aber zeitlich nicht weiter verzögern. AOK-Chef Wilfried Jacobs sieht die Zahl der Krankenkassen weiter extrem abnehmen, was eine sinnvolle Marktbereinigung sei. Gesundheitsökonom Prof. Dr. Eberhard Wille sprach davon, dass die Zusatzbeiträge in den nächsten Jahren zunächst keine große Rolle spielen, da das GKV-System 2011 eher überfinanziert sei.
Christian Weber, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium, zog eine gesundheitspolitische Bilanz nach 400 Tagen schwarz-gelbe Bundesregierung. Er nannte das GKV-Finanzierungsgesetz und das AMNOG als "die ersten beiden Meilensteine", die durchgreifende strukturelle Verbesserungen bringen. Er erinnerte an die Ausgangslage Ende 2009 mit einer prognostizierten Finanzierungslücke der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von rund 2,1 Milliarden Euro - trotz einem Bundeszuschuss von 15,5 Milliarden Euro in 2010, davon 3,9 Milliarden Euro einmalig. Die ordnungspolitische Struktur war gekennzeichnet durch einen einheitlichen Beitragssatz, den Verlust der Beitragssatzautonomie der Krankenkassen, eine 8-Euro-Pauschale als Zusatzbeitrag ohne Sozialausgleich und den teilweisen Verlust an kassenindividueller Vertragskompetenz. Weber: "Ohne Eingriffe hätten wir 2011 mit insolventen Krankenkassen rechnen müssen." Die neue Regierung habe die Abkopplung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten eingeleitet, eine nachhaltige Finanzierung geschaffen und das Gesundheitssystem wettbewerblicher ausgerichtet. Dies alles ohne Leistungskürzungen, so Weber. Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag kann von den Krankenkassen ab 1. Januar 2011 frei gestaltet werden. Durch den einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag entstehe mehr Wettbewerb durch ein klares Preissignal. Die vollzogenen Konsolidierungsmaßnahmen und Ausgabenbegrenzung bei den Leistungserbringern in 2011 und 2012 nannte Weber "kurzfristig notwendig". Die Versicherten hätten durch die Reformen zusätzliche Wahl- und Entscheidungsfreiheiten: durch den erleichterten Wechsel zur PKV oder durch Wahltarife in der GKV. Auch die Entscheidung zwischen Sachleistung und Kostenerstattung sei ein Wahlrecht. Webers Fazit: "Die Reform geht weit über Kostendämpfung hinaus. Sie ist Grundlage für eine nachhaltige und gerechte Finanzierung in der GKV. Sie kommt leise, aber wirksam. Sie gewährleistet Finanz-und Beitragsautonomie der Kassen mit wettbewerblichem Leitbild."
Dr. Dirk Göpffarth, Referatsleiter Risikostrukturausgleich beim Bundesversicherungsamt in Bonn, zog eine positive Bilanz des Gesundheitsfonds. Die Krankenkassen würden ihre Einnahmen früher und verlässlicher erhalten, da die konjunkturellen Schwankungen entfallen. Zum neuen Risikostrukturausgleich (RSA) stellte der Versicherungsexperte fest, dass auch mit dem morbiditätsorientiertem RSA erhebliche Unterschiede in den
wirtschaftlichen Positionen der Krankenkassen existieren. Dies habe sich gegenüber der vorherigen Situation nicht geändert. Die Ausgabendeckung des Gesundheitsfonds lag 2009 bei 100,5 Prozent, also etwas mehr Einnahmen als Ausgaben für die Krankenkassen. Im Jahr 2010 falle die Ausgabendeckung auf 98,8 Prozent, so dass inzwischen 13 Krankenkassen mit über 10 Millionen Versicherten einen Zusatzbeitrag erheben müssen. Voraussichtlich würden auch 2011 die Mittel aus dem Gesundheitsfonds ausreichen, um die Ausgaben zu decken. Zu den Auswirkungen des GKV-Finanzierungsgesetzes auf die Erhebung von Zusatzbeiträgen bemerkte Göpffarth, dass im Jahr 2011 der durchschnittliche Zusatzbeitrag voraussichtlich bei null Euro liegen werde. Ein Sozialausgleich werde daher nicht fällig, denn die Mitglieder haben einen Anspruch auf einen Sozialausgleich, wenn der durchschnittliche Zusatzbeitrag zwei Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen überschreitet. Sein Ausblick: "Auch wenn die Konstruktionsfehler des Zusatzbeitrages behoben wurden, ist fraglich, ob Krankenkassen gegenwärtig Zusatzbeiträge am Markt durchsetzen können." Denn derzeit werden Krankenkassen mit einem Zusatzbeitrag "abgestraft", indem sie massiv Versicherte verlieren.
Was bedeutet die Gesundheitsreform 2010 für die MedTech-Unternehmen? Für Claus C. Hommer, Leiter Government Affairs bei Johnson & Johnson, geht die gerade verabschiedete Reform der Finanzierung der GKV in die richtige Richtung. "Sie bleibt aber hinter ihrem Anspruch auf Nachhaltigkeit und soziale Ausgewogenheit zurück." Die MedTech-Unternehmen seien von den Gesetzesvorhaben nicht direkt betroffen. In die Zukunft geschaut seien aber die frühe Nutzenbewertung und Preisverhandlungen, die Kernstücke des AMNOG, auch "Blaupausen" für die weitere Regulierung des Medizintechnikmarktes. Bei der Nutzenbewertung müsse die MedTech-Branche proaktiv agieren und gemeinsam mit dem IQWiG beispielsweise Parameter für Studien und das Verfahren verlässlich festschreiben. Dabei müsse neben dem Patientennutzen auch der Anwendernutzen beachtet werden. Die Nutzenbewertung dürfe die Einführung von Innovationen nicht weiter verzögern. Für die künftige Ausgestaltung des Gesundheitssystem müsse eine Wertediskussion geführt werden, was jedem Einzelnen die Gesundheit wert ist und was er dafür an Gegenwert erwartet. Hommer schlug eine allgemeine Versicherungspflicht und ein System echter Versicherungsunternehmen, einen definierten Basisleistungskatalog und darüber hinaus Wahlleistungen über Zusatzversicherungen vor, damit der Bürger sich sein individuelles Versorgungspaket zusammenstellen kann. Eine weitere These Hommers: "Die rein sektorale Betrachtung der Gesundheitsversorgung hat uns bis heute in der Gestaltung einer abgestimmten Versorgung für die Patienten eher behindert." Erforderlich seien sektorenübergreifende Gesundheitsziele. Die Industrie habe viel Wissen, um sich an der Diskussion über sektorübergreifende Versorgungskonzepte zu beteiligen. Die Möglichkeit, dass sich MedTech-Unternehmen an IV-Verträgen beteiligen können, sei hier ein gutes und wichtiges Signal.
Wilfried Jacobs, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, schilderte die Auswirkungen der GKV-Finanzreform auf die Krankenkassen. Derzeit gebe es 163 Krankenkassen. "Es werden immer weniger, und das ist auch gut. Es sind 120 zu viel", so Jacobs. Das müsse aber nicht per Gesetz geregelt werden: "Das regelt der Markt. Und dann bekommen Krankenkassen auch eine andere Rolle als 'Einkäufer'". Die AOK Rheinland ist bereits 2006 den Weg der Fusion mit der AOK Hamburg gegangen und vertritt nun 1,94 Millionen Mitglieder. Die eingeführten Zusatzbeiträge würden einen weiteren Fusionsschub bringen und "dramatische Bewegungen zwischen den Krankenkassen auslösen". Über den Zusatzbeitrag werde sich der Markt der Krankenkassen weiter bereinigen. Wichtig sei aber, dass die Krankenkassen dann auch mehr Gestaltungsspielräume bekommen, um den Menschen zu erklären, was sie für den Zusatzbeitrag an besserer Versorgung bekommen. Beispielsweise beschäftigt die AOK Rheinland/Hamburg fünf Mitarbeiter, die den Versicherten dabei helfen, innerhalb von drei Tagen einen Arzttermin zu bekommen. Jacobs: "Wenn schon Zusatzbeitrag erhoben werden, dann muss man den Menschen auch etwas anbieten, was ihnen hilft." Die Politik müsse aufpassen, dass sie sich in ihren Lösungen nicht von dem entfernt, was die Menschen vor Ort als Probleme ansehen und im System gelöst sehen wollen. "Der Kunde denkt einfach. Er will beispielsweise seine Versicherung und die Zusatzangebote unter einem Dach", so der AOK-Chef. Er betonte auch, dass es "gute Kosten" gebe, beispielsweise Ausgaben für "echte" Innovation. Nicht die echten Innovationen seien zu teuer, sondern die Scheininnovationen.
Gesundheitsökonom Prof. Dr. Eberhard Wille von der Universität Mannheim, Vorsitzender des Gesundheits-Sachverständigenrates, bewertete die Reformen der letzten Jahre insofern als Erfolg, als sie zur Stabilisierung der GKV-Finanzen beigetragen haben. Denn ohne Handeln hätte sich die Einnahmeseite schwächer als die Wirtschaftsleistung entwickelt - und die Ausgaben wären weiter gestiegen. Ein Defizit der Beitragsgestaltung in der GKV sei die Intransparenz "als Folge einer zersplitterten Umverteilung". Benachteiligt seien beispielsweise Lohnbezieher und Zweiverdienerfamilien. Die Zusatzbeiträge werden nach Ansicht Willes in den nächsten Jahren keine große Rolle spielen. 2011 seien keine Zusatzbeiträge zu erwarten, da die GKV eher überfinanziert sei. 2012 werde es vermutlich eine geringe Lücke und damit kaum Zusatzbeiträge geben. 2013 werde gewählt. Es liege daher nicht im Interesse der Politik, dass die Krankenkassen dann auf breiter Front Zusatzbeiträge erheben. Den Gesundheitsfond sieht Wille "leidenschaftslos", er sei nur eine andere Form der Einnahmenverteilung. Eine positive Wirkung habe die Erhöhung der Wettbewerbsintensität durch Normierung des Arbeitgeberbeitragssatzes. Negativ sei, dass es noch immer eine eingeschränkte Wahlfreiheit der Versicherten gebe. Zur Ausgabenseite empfahl Wille zahlreiche Maßnahmen für einen funktionsfähigen Wettbewerb an den Schnittstellen der Leistungssektoren. Wichtig sei "die Errichtung eines Systems von validen Qualitätsindikatoren zur Erhöhung der Transparenz und als Basis eines Qualitätswettbewerbs".
Dr. Volker Leienbach, Verbandsdirektor des Verbandes der Privaten Krankenversicherung, sieht "gute Gründe für die Dualität aus GKV und PKV". Die Neuregelungen der aktuellen Gesundheitsreform hätten für die PKV positive Elemente, beispielsweise die Rücknahme der dreijährigen Wartezeit, bis man in die PKV wechseln kann. "Damit kehrt man zu dem alten, Jahrzehnte gültigen Rechtszustand zurück. Das erhöht die Wahlfreiheit", so Leienbach. Positiv sei auch die Teilhabe der PKV an den Arzneimittelrabatten. Denn: "Eine Preisdifferenz je nach Versichertenstatus bei Arzneimitteln ist nicht begründbar." Einen Grund für zwei Preise gebe es nur, wenn es auch Qualitätsunterschiede gibt. Positiv zu bewerten sei auch die Beteiligung am Verfahren der Nutzenbewertung, aber hier habe die PKV leider keine eigenständigen Verhandlungskompetenzen, bemängelt der PKV-Chef. Negativ bewertet werde auch die wettbewerbswidrige Haushaltsfinanzierung der GKV durch die Stabilisierung des Bundeszuschusses auf hohem Niveau. Ohne diese staatlichen Zuschüsse würde der "wahre" Beitragssatz der GKV 2011 bei 17 Prozent liegen. Auch die nun etablierten Zusatzversicherungen in der GKV nannte Leienbach "wettbewerbswidrig". Die GKV verlasse damit die Basis des "Notwendigen" in Konkurrenz zu einem privatwirtschaftlichen Angebot. Die Wettbewerbsbedingungen seien ungleich, da die PKV beispielsweise einen Vertrag nicht kündigen könne und Altersrückstellungen einkalkulieren müsse. Eine "saubere Abgrenzung" wäre ordnungspolitisch der saubere Weg gewesen.
Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), begrüßte, dass mit dem GKV-Finanzierungsgesetz ein erster Schritt in eine lohnunabhängige Finanzierung vollzogen wurde. Positiv sei auch der Bürokratieabbau, indem das Zuzahlungsinkasso wieder Aufgabe der Krankenkassen ist. Negativ sei aber "ein Rückfall in die alten Kostendämpfungsmuster". Die Erlöseinbußen liegen bei 1,3 Milliarden Euro in 2011 und 2012. Baum kritisierte die Aussetzung der Einführung des Kostenorientierungswertes und die stattdessen beschlossene Fortführung der Grundlohnrate sowie die Mehrleistungsabschläge, die mit einer doppelten Degression einhergehen und den Krankenhäusern Rabatte für die Kassen abverlangen. Diese Mehrleistungsabschläge dürften nicht dauerhaft bleiben, so Baum. 2011 werde sich die Kosten-Erlös-Schere der Krankenhäuser durch Kostenzuwachs und Lohnerhöhungen weiter öffnen. Baum bemängelte neben dem Investitionsstau durch die zurückgehenden Ländermittel auch einen "Personalinvestitionsstau". Es gebe rund 6.000 unbesetzte Arztstellen, eine restriktive Arbeitszeitgesetzgebung und den Bedarf an mehr Hygiene-Personal und Teilzeit-Arbeitsplätzen. Das alles koste Milliarden. Sein Fazit: "Wir fordern, das Gesetz im nächsten Jahr nachzubessern und eine Öffnungsklausel für die zumindest anteilige Refinanzierung von Tarifsteigerungen in das Gesetz aufzunehmen. Noch besser wäre die Einführung des Kostenorientierungswertes, der die Grundlohnrate bereits im nächsten Jahr ablösen sollte."
Johannes Kalläne von der neu gegründeten Patiomed AG stellte "Ärztliche Versorgungszentren" als Gegenmodell zu den Strukturen Medizinischer Versorgungszentren vor. Die Patiomed AG wurde in diesem Jahr "von Ärzten für Ärzte" gegründet. Gesellschafter sind Organisationen der Ärzte und Heilberufler. Das Unternehmen will die Ärzteschaft durch die Begleitung bei der Gründung von ärztlichen Versorgungszentren in ihrer Freiberuflichkeit unterstützen und darüber die bestmögliche Versorgung der Patienten sichern. Die Patiomed AG fühlt sich den ethischen Grundsätzen des ärztlichen Berufs verpflichtet und ist daher nicht primär gewinnorientiert ausgerichtet. "Wir verstehen unsere Ärztlichen Versorgungszentren (ÄVZ) nicht als Wettbewerber, sondern vielmehr als Partner der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte", so Kalläne. Patiomed will damit attraktive Karriereoptionen für junge Ärzte in Voll- oder Teilzeit bieten und innovative Versorgungsangebote für unterversorgte Regionen und Zentren mit dem Schwerpunkt ältere Patienten schaffen. Patiomed bietet Unterstützung und Beratung ärztlicher Kooperationsprojekte, ist Projektentwickler und Investor für Infrastruktur und Personal und hilft bei der Markenentwicklung und Markenpflege für die Zentren.
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