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BVMed-Innovationskonferenz mit dem DGCH zur Nutzenbewertung: "Chirurgen und MedTech-Unternehmen müssen gemeinsam die klinische Datenlage verbessern"

Chirurgen und Unternehmen der Medizintechnologie stehen vor der gemeinsamen Herausforderung, die klinische Datenlage zum Nachweis des Nutzens einer neuen Behandlungsmethode zu verbessern. Das verdeutlichten die Experten der BVMed-Innovationskonferenz "Fortschritt erLeben" unter dem Titel "Mehr Sicherheit und Transparenz – Neue Lösungsansätze in der Versorgung am Beispiel der Chirurgie" am 28. November 2013 in Berlin. Die Konferenz wurde erstmals in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) durchgeführt.

DGCH-Präsident Prof. Dr. Joachim Jähne betonte, dass es mehr klinische Studien in Deutschland geben müsse. Studienexperte Dr. Markus Diener vom Universitätsklinikum Heidelberg sprach von einer notwendigen "Symbiose von chirurgischer Innovation und Evidenz". BVMed-Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Joachim M. Schmitt sprach sich für eine differenzierte Nutzenbewertung bei Medizinprodukten nach Risikopotenzial und Innovationsgrad aus. Diese Herangehensweise wurde von Herzchirurg Prof. Dr. Axel Haverich von der Medizinischen Hochschule Hannover unterstützt. Er sprach sich deutlich gegen eine generelle Forderung nach randomisierten Studien in der Chirurgie aus. Prof. Dr. Edmund Neugebauer von der Universität Witten/Herdecke sprach sich für ein gestuftes Vorgehen in der Nutzenbewertung von Medizintechnologien aus: von der Fallserie über prospektive Studien bis hin zu randomisierten Studien. Dr. Diener bezeichnete die Fallserie als "guten ersten Schritt für eine Kooperation von chirurgischen Studienzentren mit Unternehmen der Medizintechnologie".


Joachim M. Schmitt, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des BVMed, betonte aus Sicht der Medizinprodukteunternehmen, dass Nutzenbewertung richtig und wichtig sei. Sie müsse aber sachgerecht erfolgen. Dazu gehöre ein differenziertes Vorgehen bei Medizinprodukten nach Risikoklasse und Modifikationsgrad. "Damit wäre bei Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden klar: Wo brauchen wir randomisierte kontrollierte Studien? Wo sind klinische Daten erforderlich? Wo sind andere Daten ausreichend?", so Schmitt. Nutzenbewertung müsse immer im Sinne des Patienten sein und dürfe nicht zweckentfremdet werden, um Innovationen zu behindern.

Prof. Dr. Joachim Jähne, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), betonte das gemeinsame Interesse von Chirurgen und MedTech-Unternehmen, gleichzeitig die Patientensicherheit und eine hohe Behandlungsqualität zu gewährleisten. Dazu müssten künftig mehr Studien durchgeführt werden. Jähnes Appell: "Wir müssen mehr Studien durchführen, um den Nutzen von Behandlungsverfahren zu evaluieren und eine hohe Behandlungsqualität sicherzustellen."

Wie können solche Studien zum Nachweis von Wirksamkeit und Nutzen bei der Anwendung von innovativen Technologien aussehen? Darauf ging Prof. Dr. Edmund Neugebauer, Direktor des Instituts für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM) an der Universität Witten/Herdecke, ein. Seine Prämisse: "Innovationen in der Medizintechnik bieten ein großes Potenzial zur Verbesserung der Patientenversorgung. Eine unzureichende klinische Prüfung von Medizinprodukten vor ihrer Marktzulassung kann aber den Patienten gefährden." Neugebauer plädiert daher dafür, bei Medizinprodukten der Risikoklasse III klinische Studien grundsätzlich durchführen zu müssen. Dabei müssten patientenrelevante Ziele evaluiert werden. Die Studiendesigns müssten sich nach dem geringsten Verzerrungspotenzial (Bias) richten. Neugebauer stellte ein stufenweises Vorgehen bei klinischen Prüfungen vor. Bei Medizinprodukten wird für die Potenzialbewertung einer neuen Methode zunächst eine Fallserien-Studie mit einer kleinen Patientengruppe durchgeführt. Zum Nachweis der Wirksamkeit und zur Vorbereitung einer Nutzenstudie sollte im nächsten Schritt eine Studie mit einer größeren Patientengruppe (ca. 30 bis 300) durchgeführt werden. Das kann mit oder ohne Kontrollgruppe und Register geschehen. Wenn der Nachweis erbracht ist, dass ein hinreichendes Potenzial für eine Erprobung vorliegt, sollte zum Vergleich mit einer Standardintervention im nächsten Schritt eine RCT-Studie mit einer ausreichend großen Patientengruppe erfolgen, um den Nutzen der Behandlungsalternative zu belegen. Zudem sollten Surveillance-Studien und Register die Langzeiteffekte evaluieren. Neugebauer sprach sich dafür aus, Synergien zwischen Klinischen Studien für die CE-Zertifizierung und solchen für den Nutzennachweis zu maximieren.

Dr. Jens Neudecker von der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie der Charité Berlin stellte das Chirurgische Studiennetzwerk "CHIR-Net" vor. Ziel sei es, hochwertige Klinische Studien in der Chirurgie mit professionellem Studienpersonal und entsprechender Finanzierung zu etablieren. Das Netzwerk soll nun über verschiedene Regionalzentren, derzeit sind es sieben, flächendeckend ausgebaut werden. Das Netzwerk wird durch das Bundesforschungsministerium unterstützt und konnte bereits 323 Kooperationspartner an 182 Standorten gewinnen. Die Partner bilden zudem junge Chirurgen für Klinische Studien aus, entwickeln Methoden und beraten bei der Konzeption von Forschungsprojekten. "Um Patientensicherheit und Versorgungsqualität in der Chirurgie kontinuierlich weiterzuentwickeln, ist der weitere Ausbau einer studiengeeigneten Infrastruktur unverzichtbar", so Neudecker. So sei es möglich, durch eine bessere Koordination in einem kurzen Zeitraum mehrere hundert Patienten für Klinische Studien zu rekrutieren. Ein Schwerpunkt künftiger Studien liege auf der Evaluation von Implantaten. Dazu habe die DGCH im Oktober 2013 eine "AG Implantate" eingerichtet. Bei der Analyse der Evidenz, der Durchführung von Klinischen Studien und der Netzwerkbildung gebe es zahlreiche Ansätze zur Zusammenarbeit mit den Unternehmen der Medizintechnologie.

Für eine "effektive Symbiose von chirurgischer Innovation und Evidenz" sprach sich Dr. Markus Diener von der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsklinikums Heidelberg aus. Er ist Leiter des Studienzentrums der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (SDGC). In den vergangenen zehn Jahren sei es der DGCH gelungen, mit ihrem Studienzentrum die Umsetzung Klinischer Studien in der Chirurgie bundesweit voranzutreiben. Seit 2006 gehörte das SDGC in Heidelberg dem chirurgischen Studiennetzwerk CHIR-Net an. Deutschland habe bei der Klinischen Forschung nach wie vor Nachholbedarf. Die Wirksamkeitsbeurteilung sei keine gängige Praxis. "Wir müssen bessere Daten generieren, um in der aktuellen Diskussion um die Notwendigkeit von Operationen besser bestehen zu können", so Diener. Multizentrische Studien könnten von den Unternehmen auch als Marketingtool genutzt werden. "Davon profitieren beide Seiten", so Diener. Wichtig sei es, die Patientensicherheit zu gewährleisten, ohne auf der anderen Seite Innovationen zu bremsen. Dieners Fazit: "Voraussetzung für den Erfolg ist eine verstärkte Kooperation zwischen Industrie, Krankenkassen, Kliniken und Wissenschaft."

Den neuen europäischen Rechtsrahmen für Hersteller von Hochrisikoprodukten beleuchtete Peter Schröer vom Johnson & Johnson Medical-Unternehmen Ethicon Endo-Surgery. Das europäische System der Medizinprodukte-Zulassung habe gegenüber dem US-FDA-System große Vorteile. Es sei schneller und genauso sicher. In Europa kommen die Zulassungsstellen jedes Jahr zur Auditierung in das Unternehmen. Alle 5 Jahre werden die Produkte neu zertifizert. Das gebe es in den USA nicht. Seit September 2013 seien zudem unangekündigte Überprüfungen beim Hersteller verpflichtend. Aufgrund dieser Stärken des Systems sprechen sich die EU-Kommission und das Parlament gegen eine zentrale europäische Zulassungsbehörde für Hochrisikoprodukte aus. Dadurch gebe es "keinen signifikanten Mehrwert für die Patientensicherheit". Die neue Medizinprodukte-Verordnung (MDR) befindet sich derzeit im Abstimmungsprozess zwischen Rat, Parlament und Kommission. Dabei gebe es noch viele ungeklärte Fragen, so Schröer. Beispielsweise versuche das Parlament, den Bereich der Hochrisikoprodukte über die Risikoklasse III hinaus auszuweiten. Für Produkte mit hohem und mittlerem Risiko soll es spezielle Zulassungsstellen und zusätzliche Prüfungen geben. Schröers kritisches Fazit: "Die MDR erfordert signifikante Investitionen in Bereichen, die die Patientensicherheit verbessern sollen. Die Anforderungen an die klinischen Daten sollten dabei medizinproduktbezogen sein, und nicht pauschal nach Produktklassen erstellt werden."

Medizinrechtler Prof. Dr. Christian Dierks ging auf den derzeitigen Rechtsrahmen zur Nutzenbewertung und Erprobung von Medizinprodukten ein. Durch die Erprobungsregelung nach § 137e SGB V erhält der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Möglichkeit, für eine Methode mit Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative, deren Nutzen noch nicht hinreichend belegt ist, das Bewertungsverfahren auszusetzen und eine Erprobungsstudie zu initiieren. Die Erfahrungen mit dem AMNOG aus dem Arzneimittelbereich seien nicht identisch auf den Medizinproduktebereich anwendbar, müssten aber berücksichtigt werden. Bei Medizinprodukten müsste unbedingt die klinische Erfahrung in die Diskussion einbezogen werden. Deshalb sei der Dialog zwischen den Ärzten und den Unternehmen so wichtig, damit das Feld nicht nur den reinen "Evidence Based Medicine"-Verfechtern überlassen werde, so Dierks.

Wie gehen andere Länder mit der Nutzenbewertung von Medizinprodukten um? Ein Beispiel aus der Schweiz präsentierte Dr. Christoph Röder, Leiter des Instituts für Evaluative Forschung in der Orthopädie an der Universität Bern, mit dem Register "SWISSspine" für Bandscheibenprothesen. Nach einem Vergütungsstopp im Jahr 2004 führte die Schweiz zum 1. Januar 2005 unter Auflage eines nationalen Registers eine provisorische Vergütung wieder ein. Im März 2005 startete das SWISSspine-Register. Die Schweiz verfolgt auch bei anderen Innovationen das Prinzip, eine neue Behandlungsmethode nur zuzulassen, wenn sie begleitend evaluiert wird. Ziel ist die bessere Evidenzgenerierung aus dem klinischen Alltag. Im Bandscheibenimplantate-Bereich will die Regierung sogar 10-Jahres-Daten sehen, bevor die Vergütung wieder ohne Evaluation ermöglicht wird. Die 5-Jahres-Ergebnisse des Registers fielen "zugunsten der Technologien" aus.

Hinweis an die Medien: Druckfähige Bilder zur Konferenz können unter www.bvmed.de (Bilder / Veranstaltungen) heruntergeladen werden.
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